Nationaler Phönix aus der Asche des Rassismus
Das neue Selbstbewusstsein der Berliner Republik
Der mörderische Brandanschlag vom 29. Mai 1993 in Solingen wurde weniger als drei Tage nach dem Bundestagsbeschluss zur faktischen Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl verübt. Im Zusammenspiel von Medien und Politik erstarkte ein rassistisches Klima gegen Migrant_innen, das eine Welle neonazistischer und rassistischer Gewalt nach sich zog. Das Nationalbewusstsein der neuen Berliner Republik erwuchs im Feuerschein rassistischer Gewalt.
Der Solinger Brandanschlag bildet in gewisser Hinsicht den grauenvollen Höhepunkt einer rassistischen Dekade in der bundesdeutschen Geschichte. Die vier jungen Solinger, die am 29. Mai 1993 Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18) und Gürsün İnce (27) ermordeten und weitere Familienangehörige – teilweise schwer – verletzten, begingen ihre Tat in einer Zeit seit Jahren aufgeheizter und fortwährend durch Politik und Medien gefütterter Hetzstimmung gegen Flüchtlinge, die sich gegen alle vermeintlich „Fremden“ ausweitete. Hierbei wurde der neonazistische Mob zum Ausführungsorgan einer geistigen Brandstiftung. Das fatale Zusammenwirken, bei dem die extreme Rechte zur Stichwortgeberin für die „Mitte“ wurde, äußerte sich nicht nur in den gleichen Feindbildstereotypen, sondern auch in der politischen Stoßrichtung: Es waren die Republikaner, die die Asylrechtsfrage in den Mittelpunkt ihrer Agitation stellten und als eine der ersten die Forderung nach Abschaffung des Grundrechts auf Asyl erhoben. In zynischer Weise wurde sogar die Eindämmung extrem rechter Gewalt als Begründung für die Grundgesetz-Änderung herangezogen. Der Anschlag von Solingen zeigte auf brutale Weise, dass von einer solchen Eindämmung keine Rede sein konnte – im Gegenteil: Neonazis hatten letztlich Einfluss auf das Handeln der etablierten Politik genommen und konnten sich nun bestätigt fühlen. Trotzdem hielt es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht für nötig, nach den Morden in Solingen zu erscheinen: Ein „Beileidstourismus“ sei fehl am Platze.
Die Wiedergeburt des Nationalen
Der Beginn der konservativen Wende war geprägt vom Bestreben, die Politik zu renationalisieren. Dies ging einher mit der Abwehr der Erinnerung an die „deutsche Schuld“. Nicht mehr eine „zurückhaltende“ Außenpolitik, sondern das offensive Einfordern von stärkerem politisch-militärischem Einfluss auf der Bühne der Weltpolitik bestimmte die Tonart. Aus dem Wunsch nach einer Umsetzung kapitalkompatibler „nationaler Interessen“ leiteten sich immer offener artikulierte rassistisch-autoritär geprägte Vorstellungen gegenüber Minderheiten und Menschenrechten ab. Innenpolitisch schlug sich dies neben Maßnahmen gegen linke soziale Bewegungen vor allem in einer Fokussierung auf das Feindbild „Ausländer“ nieder. Waren die Gastarbeiter_innen noch bloße Verwertungsmasse, so formierte sich in der fordistischen Ära des sogenannten bundesdeutschen Wohlfahrtsstaates zunehmend migrantischer Widerstand gegen Ausbeutung, Entrechtung und Rassismus. Viel änderte sich dadurch jedoch nicht. In der fortdauernden Weigerung, die Bundesrepublik als Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen, zeigten sich die völkisch-rassistischen Kontinuitäten des hegemonialen politischen Blocks. Historischer Höhepunkt der neuen Selbstverortung, die „die Deutschen“ damals vornahmen, war die Parole der sogenannten Wiedervereinigung: „Wir sind ein Volk“. Der nationalistische Taumel, der damit einherging, bestätigte nicht nur das „Wir“, sondern auch ein „die Anderen“; er markierte auf rassistische Weise die Grenze gegenüber den zugewanderten Bevölkerungsteilen – nämlich anhand der biologischen Abstammung.
Politische Hetze
Als Anfang der 1990er Jahre infolge des Jugoslawien-Krieges die Flüchtlingszahlen stiegen, verkündete Kohl den deutschen „Staatsnotstand“. Quer durch die Parteienlandschaft der Bundesrepublik kulminierte die rassistische Hetze gegen Flüchtlinge und erweiterte sich auf „die Ausländer“: „Es kann nicht sein, dass ein Teil der Ausländer bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort ‘Asyl’ rufen, dem Steuerzahler auf der Tasche liegen“, verkündete im Oktober 1991 Klaus Landowsky, damals CDU-Fraktionsvorsitzender in Berlin. Vergleichbar NPD-kompatibel brach es aus dem Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion NRW, Friedhelm Farthmann, heraus: „Kurzen Prozess, an Kopf und Kragen packen und raus damit!“ Die zunehmende Bezugnahme auf des angeblichen „Volkes Stimme“ prägte den zunehmenden rassistischen Populismus quer durch die Parteienlandschaft. O-Ton des damaligen Oberbürgermeisters Georg Kronawitter aus München: „Der Unmut bei den Menschen ist riesig. Glauben Sie denn, dass die ruhig hinnehmen werden, wenn Millionen Ausländer ungeordnet in unser Land fluten?“
Die Medien spielten größtenteils in einer ähnlichen Tonart. Deutschlands größtes Hetzblatt gegen Minderheiten titelte BILDlich: „Fast jede Minute ein neuer Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt das Boot?“ Die FAZ sekundierte mit der Schlagzeile von den „Asyl-Touristen“. Die volksgemeinschaftsbildende Parole „Das Boot ist voll“, getitelt vom SPIEGEL und als Sinnbild für ein vermeintlich überlastetes Deutschland weithin akzeptiert, war politischer Orientierungsmaßstab für eine Welle rassistischer Gewalttaten.
Die „politischen Soldaten“
Die Neonazis erfuhren seit der Wende einen quantitativen wie ebenso qualitativen Aufschwung. Sie konnten sich damals als „Vollstrecker des Volkswillens“ empfinden. Über 4.700 Anschläge, 26 Tote und zirka 1.800 Verletzte wurden allein zwischen 1991 und 1993 verzeichnet. Allein im Jahr 1991 wurden offiziell um die 500 Neonazi-Gewalttaten gezählt. Die rechte Gewalt spitzte sich in pogromartigen Massenaktionen zu. In Hoyerswerda mündeten die neonazistische Jagd auf vietnamesische Straßenhändler in tagelange Angriffe auf ein Asylbewerber_innenheim und ein Heim für Vertragsarbeiter_innen – unter dem Beifall der aufgehetzten Anwohner_innenschaft. Die Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen, als Flüchtlinge und vietnamesische Vertragsarbeiter_innen um ihren Leben fürchten mussten, gelten als das Symbol schlechthin für eine Allianz von Neonazis, rassistischem Bürger_innenmob, Medienhetze und etablierter Politik. In unmittelbarer Reaktion auf diese Gewalteskalation äußerte der damalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Berndt Seite: „Sehen Sie, es muss Schluss sein, dass wir am Finger herumoperieren, sondern der Körper ist krank mit dem Problem Asylaufnahme in Deutschland.“
Der Brandanschlag auf zwei von Migrant_innen bewohnte Häuser im Dezember 1992 in Mölln (Schleswig-Holstein), bei dem Neonazis drei Menschen ermordeten und weitere schwer verletzten, rief großes Entsetzen hervor und war ein weiteres Zeichen der Eskalation extrem rechter Gewalt.
Mit dem Rücken zur Wand
Die linken Bewegungen waren von der rassistischen Entwicklung überrollt worden. Zu Beginn des konservativen Wandels in den 1980er-Jahren war die radikale Linke noch dabei, die vergangene Blütephase sozialer Bewegungen und revolutionär gedeuteter internationaler Solidaritätskampagnen zu verarbeiten. Die realpolitische Dimension der „geistig-moralischen Wende“, die Helmut Kohl und die CDU ausgerufen hatten, wurde vollständig verkannt. Die Auswirkungen der Renationalisierung wurden unterschätzt, Kohl („Birne“) belächelt und die DDR-Annektion verschlafen. Auf die neudeutsche nationale Besoffenheit hatte die Linke – außer sympathischer, aber marginaler „Deutschland halt‘s Maul“-Demos – keine ernst zu nehmenden Antworten. Die radikale Linke der vergangenen Dekade hinkte ihrer Zeit hinterher und befand sich – entgegen ihres pseudorevolutionären Gestus – hoffnungslos in Rückzugsgefechten. Sie stand einer immer selbstbewussteren wie öffentlich angestachelten Neonazi-Szene gegenüber und musste notwendigerweise erste Schritte antifaschistisch organisierter Selbsthilfe erproben. Jene Dekade rassistischer Gewalt war daher zugleich eine Dekade linker Umorientierung von vormals revolutionären Weltveränderungsvorstellungen auf antifaschistische Rückzugsgefechte. Die linksradikale Utopie einer besseren (Welt-) Gesellschaft durch einen weltweiten Kampf um Befreiung von Imperialismus, Krieg und Ausbeutung wandelte sich angesichts der verkannten deutschen politischen Realität in die langsam durchsickernde Erkenntnis, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Spätestens am „Tag X“, als anlässlich des Bundestagsbeschlusses zur Asylrechtsänderung zur Blockade des Bundestages aufgerufen wurde, war sich die Linke ihrer Bedeutungslosigkeit schmerzlich bewusst. An diesem 26. Mai 1993 wurde deutlich, dass auch eine kritisch-liberale Öffentlichkeit weggebrochen war – verhindert wurde nichts.
Lichterketten und Asylrechtsänderung
Doch von Ende 1992 an war eine Klage über die rassistische Gewalt auch in einer breiteren Öffentlichkeit zu beobachten. Der anfangs noch zivilgesellschaftlich organisierte Protest erfuhr nach erstem erfolgreichem Kundgebungsauftakt in München zunehmend Unterstützung durch die politisch-administrative Ebene. Das durch die rassistischen Pogrome beschädigte „Ansehen Deutschlands in der Welt“ sollte im Kerzenschein gleichsam repariert werden. Die Lichterketten stellten die Asylrechtsänderung nicht in Frage. Letztere und der Brandanschlag in Solingen markierten den Zeitenwechsel einer rassistischen Dekade staatlicher Politik in Deutschland hin zu einer neuen Epoche. Rassistische Äußerungen von Repräsentant_innen des Systems wie auch in rechtspopulistischen Medien wie der BILD-Zeitung rückten ins Zentrum linksliberaler Kritik. Damit wurden auch die nationalen Identitätssetzungen neu bestimmt: weg von altvölkischen „Rasse“-Konstruktionen hin zu kapitalkompatiblen Nationalitätskonstruktionen unter globalisierten Verhältnissen. Die Feststellung, dass die BRD eine Einwanderungsgesellschaft sei, gehört mittlerweile zum politischen Allgemeingut. Zur Selbstvergewisserung, eine offene, tolerante und plurale Gesellschaft zu sein, gehört auch die Ächtung offen nazistischer Positionen. Der „Pakt“, der faktisch in der vergangenen Dekade zwischen Elite und Mob bestand, ist einseitig gekündigt worden. Denn die Elite braucht diesen Mob nicht mehr. Mit dem Wandel staatlicher und supranationaler Akkumulations- und Regulationsverhältnisse modifizieren sich auch die Verhältnisse rassistischer Normierung des Nationalen. Deutschland ist heute mehr Auswanderungs- als Einwanderungsland, und das Kapital benötigt keine Brandstifter, sondern ausländische Facharbeitskräfte. Ob die Hetze gegen Muslime, gegen Sinti und Roma, gegen „Sozialschmarotzer“ und die „Hängematten-Griechen“ tatsächlich eine „neue Ära des Rassismus“ aufzeigt oder ob sich hier genau die gleichen Feindbilder wie bisher zeigen, bleibt weiterhin umstritten.