„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“
Wie gesellschaftskritisch ist das Modell?
Die „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) ist vielen ein Begriff. In Politik, Medien und Praxis wird oft und gern darauf Bezug genommen. Hervorgehoben wird insbesondere, dass nun endlich Zahlen vorlägen, die das Ausmaß „des Problems“ belegten, und dass dort „Rechtsextremismus“ nicht auf ein einzelnes „Element“ reduziert werde, sondern umfassend „Feindlichkeit“ gegenüber verschiedenen Personengruppen untersucht werde. Doch wie „neu“ ist dies tatsächlich? Und wie ist es um das kritische Potential bestellt?
Die „Deutschen Zustände“ sind in den letzten zehn Jahren regelmäßig als erschwingliche Taschenbuchausgabe erschienen. Sie enthalten neben kurzen Analysen der empirischen Daten zu ausgewählten Aspekten auch Berichte aus der Praxis zivilgesellschaftlicher Akteur*innen und von Journalist*innen. Das erhöht sicherlich die Lesbarkeit für ein Publikum, das mit einer Flut an Zahlen, Tabellen und Graphiken nicht allzuviel anzufangen weiß. Denn quantitative Untersuchungen gibt es, sowohl von staatlichen Stellen als von NGOs und von unabhängigen Wissenschaftler*innen. Auch Studien und Theorien, die „Rechtsextremismus“ nicht auf Rassismus reduzieren bzw. Wechselwirkungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Differenzierungen – teils zentral – thematisieren, sind seit Längerem keine Seltenheit mehr. Es verwundert also, warum gerade dieses Modell, das in wissenschaftlichen Debatten so wenig zur Kenntnis genommen wird, in Politik, Medien und Praxis gleichermaßen zustimmend zitiert wird.
Im Folgenden wird aus wissenschaftlicher Perspektive diskutiert, warum das Modell der GMF weitgehend uninteressant ist. Aus gesellschaftskritischer Sicht wird gefragt, warum dieses Modell politisch so wenig zu bewegen vermag.
Das Modell und seine Vorannahmen
In der kürzlich abgeschlossenen Langzeituntersuchung des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung werden Einstellungen zu Elementen abgefragt, die zum „Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zusammengefasst werden. Die theoretische Grundlegung der Untersuchung, wie sie Wilhelm Heitmeyer, Leiter der Studie von der Universität Bielefeld, in der letzten Folge der Publikation „Deutsche Zustände“ (2012) einleitend zusammenfasst, geht von folgendem Modell aus:
„Die Grundphilosophie unseres Projekts bestand nun darin, daß (sic) die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Sicherung ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit zu den zentralen Werten einer modernen und humanen Gesellschaft gehören. Diese Prinzipien drücken den Willen einer Gesellschaft aus, ein möglichst angstfreies Zusammenleben von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser, kultureller oder sozialer Herkunft mitsamt ihrer alltäglichen Lebenspraxis zu realisieren. Die Verwirklichung solcher Wert- und Normvorstellungen ist bekanntlich in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen, also sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen. Eine auf längere Sicht zerstörerische Entwicklung sowohl für Individuen als auch für eine liberale und humane Gesellschaft ist dann gegeben, wenn sich menschenfeindliche Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen oder gar ausweiten.“
Der gesellschaftliche Kontext, in dem „menschenfeindliche Einstellungen“ verortet werden, wird beschrieben als einer, in dem es zwischen Politik und Kapital zu einer Kontrollverschiebung gekommen sei, die zu einer Entsicherung, Richtungslosigkeit und Demokratieentleerung in der Bevölkerung führe.
Das heißt, Rassismus, Sexismus usw. werden zwar auf der Ebene der (abgefragten) Einstellungen benannt. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene werden die Missstände aber nicht als rassistische, sexistische usw. analysiert oder benannt – etwa im Zusammenhang mit der Ausländergesetzgebung, Migrationspolitik, Frauenerwerbsarbeit, Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partner*innenschaften usw.. Vielmehr werden sie auf eine andere Ebene verlagert, die das Verhältnis von Kapital und Politik bzw. das Versagen von Politik im Allgemeinen thematisiert. Rassismus, Sexismus usw. sind dann „Elemente“ eines „Syndroms“, die als Effekte eines gesellschaftlichen Problems auftauchen, aber wenig mit den Inhalten der Elemente des Syndroms zu tun haben. Gesellschaft und Politik werden dann zwar in die Verantwortung genommen (sie sollen das Kapital kontrollieren, die Ängste der Bürger*innen ernst nehmen, für Sicherheit und Zusammenhalt sorgen etc.). Gleichzeitig aber werden jene konkreten „menschenfeindlichen“ Praktiken und Diskurse, die politisch propagiert und umgesetzt werden (und zwar nicht lediglich von extrem rechten Parteien), außer Acht gelassen. Die Beschreibung der Moderne als human und auf Gleichwertigkeit zielend, lässt sowohl die historischen Opfer der Moderne (Kolonialismus und Nationalsozialismus), als auch die aktuellen (etwa NSU und Lampedusa) außer Acht. Gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnissen können vor dem Hintergrund der gesellschafts-/theoretischen Vorannahmen, die dem Modell GMF zu Grunde gelegt werden, nicht in den Blick geraten.
Einstellungen und Anschläge
Lediglich im Zusammenhang mit Islamfeindlichkeit – die hier von Rassismus und der ebenfalls erhobenen Fremdenfeindlichkeit unterschieden wird – wird ein spezifischer Zusammenhang zwischen Politik und Einstellungen als Begründung genannt. Islamfeindlichkeit wird in den Zusammenhang des 11. September 2001 gestellt: Hier habe die Politik versagt, weil sie nicht adäquat reagiert und die Bedrohungsängste der Menschen nicht ernst genommen habe. Die Folge sei eine Entsicherung des Zusammenlebens. In früheren Publikationen wurde der Begriff der Islamophobie bevorzugt, der die zu Grunde liegende Argumentation deutlicher zum Ausdruck bringt. Sie geht davon aus, dass „deutsche“ Bürger*innen sich bedroht fühlten und Angst hätten und deswegen „islamfeindlich“ eingestellt seien. Es findet also argumentativ eine Täter*in-Opfer-Umkehr statt. Auch werden hier in dichotomisierender Weise Muslim*innen als Nicht-Deutsche und Deutsche als Nicht-Muslim*innen definiert, Religionszugehörigkeit und Staatsangehörigkeit demnach als Einheit gesetzt. So wird etwa die Zustimmung zu folgender Aussage erfragt: „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden.“ (S. 38) Fragen und Begrifflichkeiten beruhen auf dem Grundmodell der Studie, das den Konstruktionsprozess des Othering, des Fremd-machens, hier: der Muslimisierung nicht in Frage stellt. Damit folgt die Studie dem herrschenden politischen Diskurs, wonach Deutsche, deutsche Geschichte und deutsche Kultur genuin christlich seien. „Der Islam“ sei „uns“ demnach fremd und gehöre nicht hierher. Damit findet nicht nur eine vereindeutigende Geschichtsschreibung statt, die jene Aspekte „vergisst“, die ihr nicht in die Konstruktion der deutschen Nation passen. Darüber hinaus wird die gegenseitige Beeinflussung, gemeinsame Entwicklungen, geographische, religiöse und kulturelle Nähe christlicher und muslimischer Gesellschaften verkannt – oder verdrängt. Gleichzeitig werden jene politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Praktiken, die aus Eingewanderten Muslim*innen machen und sie entlang ihrer Muslimisierung an der gleichberechtigten Partizipation an Gesellschaft hindern, unsichtbar gemacht. Der politische und rechtliche Ausschluss und die Marginalisierung von Migrant*innen, Flüchtlingen, Muslim*innen (und anderen) wird verharmlosend als religiös-kulturelle Differenz, die ihren Niederschlag in Einstellungen findet, abgefragt. Der Beitrag von Gesellschaft und Politik zu „Islamfeindlichkeit“ bzw. „Menschenfeindlichkeit“ im Allgemeinen wird nicht als konstitutiver theoretisiert. Vielmehr wird „unsere“ moderne Gesellschaft als grundsätzlich human angenommen. Dieses Bild wird lediglich durch bestimmte Einstellungen getrübt, die aber angesichts des politischen Unvermögens, die eigenen Bürger*innen vor dem „Islamismus“ zu schützen, verständlich seien.
Einzelne (insbesondere extrem rechte) Politiker*innen und andere Eliten (in den Medien etwa) nutzten ihre Positionen, um sich islamfeindlich zu äußern. Das heißt, auch die in der „Grundphilosophie“ aufgeführten Ebenen der Institutionen, Politik, Medien, Repräsentationen, werden nicht in ihrem jeweils spezifischen Beitrag zu den erhobenen Äußerungen analysiert, sondern ebenfalls ausschließlich als Einstellungen, die allerdings – da mit Macht ausgestattet – Wirkung zeigten. Derart wird Rassismus (bzw. Islamfeindlichkeit) auf eine Meinung, Äußerung oder Einstellung reduziert, die modernen Gesellschaften ihrer Grundstruktur nach äußerlich seien, ihnen im Grunde widersprechen.
Einstellungen, Gesellschaftsstruktur und Politik
Das Modell GMF geht davon aus, dass Rassismus, Sexismus, Homophobie etc. der Moderne äußerlich seien. Diese Vorannahme hat zur Folge, dass Diskriminierung als Einstellung von Individuen definiert wird, ohne diese Einstellungen auf ihre inneren Bezüge zur modernen Gesellschaft hin zu befragen, mit ihren Formen struktureller, institutioneller und diskursiver Diskriminierung. Diese Herangehensweise hat fatale Auswirkungen auf die gesamte Untersuchung. Die erhobenen Antworten zu „Fremdenfeindlichkeit“ etwa werden mit Daten zu Jugendarbeitslosigkeit, Prekarisierung u.ä. ins Verhältnis gesetzt, so dass „Fremdenfeindlichkeit“ nicht als solche zu erklären versucht wird, sondern über den Umweg der Jugendarbeitslosigkeit etc.. Dies wird mit Orientierungslosigkeit, fehlendem Zusammenhalt, Zerfall der Gesellschaft etc. ins Verhältnis gesetzt, so dass eine Argumentationskette entsteht, die zwar bei Rassismus, Sexismus etc. ansetzt, diese aber nicht als solche ernst nimmt, sondern lediglich als Symptome für etwas anderes, das auf Fehlentwicklungen in der Politik hinweisen soll. Die Politik aber wird nicht auf ihre rassistischen, sexistischen, homophoben, antimuslimischen Argumentationen und Praktiken hin befragt, sondern auf ihre Fähigkeiten, Kapitalismus zu kontrollieren und Terrorismus zu bekämpfen. Diese Argumentation kann nicht erklären, warum diese Politik zu genau diesen Einstellungen (und nicht zu ganz anderen oder zu solchen, die direkt auf Politik zielen) führt bzw. warum die genannten politischen Tendenzen als Ursachen angenommen werden und nicht in rassistischen, sexistischen, heteronormativen etc. Politiken nach Ursachen oder zumindest Zusammenhängen zu eben jenen Einstellungen gesucht wird.
Durch die Forschungsperspektive findet eine Instrumentalisierung von Muslim*innen, Sinti und Sintize, Roma und Romnja etc. statt sowie eine Entlastung von Politik und befragten Bürger*innen: Politik wird nicht auf ihre Praktiken hin befragt, die diese Gruppen faktisch diskriminieren; Individuen wehren sich nur, indem sie sich „abwertend“ über Andere äußern. Marginalisierte und Diskriminierte sind dabei als Indikatoren für den Zustand der Gesellschaft interessant.
Die theoretischen Bezüge des GMF-Projekts werden in Erklärungsmodellen begründet, die die zu erhebenden Diskriminierungen und Abwertungen nicht als gesellschaftliche mitdenken, sondern zu Einstellungen und Vorurteilen verharmlosen. Rassismen, Sexismus, Homophobie usw. werden als subjektive und soziale Reaktionen auf gesellschaftliche Verhältnisse und nicht als die Gesellschaft strukturierend und konstituierend definiert; die zu Grunde gelegte Gesellschaftstheorie kommt damit ohne eine Analyse von Antisemitismus, Rassismus, Sexismus etc. aus. Sie werden als Folgeprobleme individualisiert und entpolitisiert.
Elemente eines Syndroms
Das Forschungsprojekt GMF ist angetreten, die unterschiedlichen Elemente des „Syndroms“ in ihrem Verhältnis zueinander zu erheben und zu analysieren. Auch hierzu werden der eigenen Studie nicht jene Debatten zu Grunde gelegt, die spätestens seit den 1980er Jahren zur Verschränkung, Intersektionalität, Wechselwirkung, Überlappung von Machtverhältnissen geführt werden. Vielmehr werden verschiedene Begriffe eingeführt (auf Grund welcher theoretischen Vorannahmen oder empirischen Voruntersuchung bleibt unklar), Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit, Etabliertenvorrechte etc. erscheinen dann als jeweils säuberlich voneinander zu trennende „Elemente“. Die Vorannahmen, mit denen die Forscher*innen in die Erhebung der Daten gehen (und die nicht im Laufe der Forschung in Frage gestellt werden), werden der Auswertung zu Grunde gelegt und mit den Daten belegt. Die Vorannahme etwa, dass Jugendarbeitslosigkeit und Rassismus zusam-men hängen müssen, führt dazu, dass die Daten zu Jugendarbeitslosigkeit und jene zu Rassismus nebeneinander gestellt werden und festgestellt wird: Beides steigt oder sinkt parallel. Daraus aber einen inneren Zusammenhang zu konstruieren, bedarf weiterer Untersuchungen, die – trotz des enormen Aufwands der Studie – nicht stattgefunden zu haben scheinen, jedenfalls sind dazu keine Publikationen erschienen.
Das ist nicht nur ein wissenschaftliches Problem, sondern auch ein politisches. Studien zu Sexismus, Rassismus, Antisemitismus usw. zeigen übereinstimmend, dass die Formen und sozialen Orte, in denen sie zum Tragen kommen, zwar verschieden sein können. Während in einigen sozialen Kontexten bestimmte Äußerungen als legitim erscheinen, werden sie in anderen verklausuliert. Die Antworten auf ausgewählte Fragen, die lediglich knapp abgehakt werden können, geben keine verlässliche Auskunft darüber, welche Einstellung eine Person zu dem gesamten Phänomen hat. Auch ist die Parallelisierung von Antworten zu Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie etc. zu Sozialdaten, zu beruflichem Anstellungsverhältnis oder formalem Bildungsabschluss kein Hinweis darauf, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen diesen beiden Dimensionen gibt. Es ist zwar löblich, dass Heitmeyer et al. daran erinnern, in welcher Weise das Verhältnis von Politik und Kapital dazu beigetragen hat, dass sich soziale Widersprüche verschärft haben. Nur mit den genannten Elementen der GMF hat das nicht unbedingt etwas zu tun bzw. der hergestellte Zusammenhang kann durch die Studie nicht belegt werden. Vielmehr werden entsprechende Einflüsse von Politik und Kapital (und anderen „Eliten“, etwa in Bildung, Wissenschaft, Medien etc.) zur Sexualisierung, Rassialisierung, Heteronormalisierung etc. unserer Gesellschaft ignoriert. Der Zusammenhang zwischen diesen gesellschaftlichen Machtverhältnissen besteht in ihrer jeweils spezifischen Tradierung und Funktionalität, die aufeinander verweisen, sich kreuzen, sich verstärken oder modifizieren können. Ihr Verhältnis zueinander wird in entsprechenden Studien herausgearbeitet. Die Relation der Machtverhältnisse zueinander und ihre gesellschaftliche Verankerung und politische Rahmung wird in diesen Arbeiten in einer Weise diskutiert, die Geschlecht, Sexualität, Beeinträchtigung, Nation, Ethnizität usw. als konstitutive und Gesellschaft strukturierende Verhältnisse ernst nimmt. Zu dieser gesellschaftskritischen Debatte vermag das Modell GMF nichts beizutragen.
Literatur
Attia, Iman (2013): Institutionelle Diskriminierung und struktureller Rassismus in modernen Gesellschaften. In: Opferperspektive e.V. (Hg.): Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt, Münster, S. 139-152
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2012): Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin
Terkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus, Bielefeld