Symbole und Sackgassen
Von Konzentrationslagern und Vernichtungslagern
Das Wort „Lager“ ruft in unseren Breiten unweigerlich Assoziationen mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern hervor. Für diese steht wiederum Auschwitz als Beispiel und Symbol. So hilfreich diese in vielen Köpfen fest verankerte Assoziationskette für das Wachhalten der Erinnerung an Shoa und glücklicherweise mittlerweile auch Porajmos – der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Sinti und Roma – ist, so viele Schwierigkeiten bringt die Verengung des Begriffes „Lager“ bzw. „Konzentrationslager“ oftmals mit sich, denn mit dem Wissen um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der nationalsozialistischen und anderer Zwangslager gehen so auch viele wertvolle Argumente verloren. Gute Gründe, einmal der Frage nachzugehen, wie sich Konzentrations- und Vernichtungslager untereinander und von anderen Lagern unterscheiden.
Auschwitz als Symbol
„Auschwitz bildete den Brennpunkt der beiden ideologischen Leitgedanken des nationalsozialistischen Regimes: Es war der größte Schauplatz des Massenmords an den europäischen Juden und ein Kristallisationspunkt der Siedlungs- und ‘Germanisierungspolitik’. Vernichtung und ‘Lebensraumeroberung’ verschmolzen hier konzeptionell, zeitlich und räumlich. Als Konzentrationslager, Vernichtungslager und Drehscheibe des Zwangsarbeitseinsatzes steht Auschwitz exemplarisch für die Multidimensionalität des nationalsozialistischen Lagersystems.“ So beschreibt Sybille Steinbacher in ihrem sehr empfehlenswerten Überblicksband „Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte“ die Gründe, die Auschwitz – völlig zu Recht – zum Symbol für die nationalsozialistischen Verbrechen, allen voran der „Endlösung“ machen. Fast alle Aspekte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik lassen sich an diesem Ort, an der Geschichte der Stadt und des Lagers, ablesen und damit darstellen, ebenso wie die nationalsozialistische Vorstellung vom „idealen Leben“ eines „Herrenmenschen“ und die Rolle, die andere Völker in dieser Welt spielen sollten. Dieselben Gründe, die Auschwitz zu diesem Symbol machen, sind aber auch diejenigen, die es zur Ausnahme machen. Nur zwei nationalsozialistische Konzentrationslager waren gleichzeitig auch Vernichtungslager: Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek, das Odilo Globocnik eher eigenmächtig in „seine“ „Aktion Reinhardt“ einband und zu diesem Zweck dort Gaskammern errichten ließ.
Lagertypen
Eine klar umrissene und ausformulierte Typologie von Lagern gibt es bislang nicht. In den letzten Jahren sind jedoch in der Geschichtswissenschaften einige Fortschritte auf dem Weg hin zu einer solchen und somit einem besseren Verständnis der Bedeutung und Funktion von Lagern insgesamt gemacht worden, sowohl in Bezug auf die nationalsozialistischen Lager als auch auf Lager, die „vor Auschwitz“ existierten. Die grundsätzliche Frage, die an jedes Lager zu stellen ist, ist die nach seinem Zweck. So lässt sich zunächst einmal eine grundlegende Unterscheidung zwischen solchen Lagern treffen, die der Inklusion dienen und solchen, deren Zweck in der Exklusion besteht. Gemein bleibt jedoch beiden, dass Gewalt immer ein Bestandteil von Lagern ist, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Integrative Lager, wie beispielsweise Jugendlager von Pfadfindern oder politischen Organisationen sind bei genauerer Betrachtung auch immer Orte der Disziplinierung – wobei die Frage, auf welche Weise diese erfolgt, eine entscheidende ist. Auch in linken Protestcamps findet eine Disziplinierung statt, ohne die ein solches Camp nicht funktionieren würde. Bis auf wenige Grenzfälle wird das notwendige Maß an Disziplin jedoch hier durch die einzelnen Teilnehmer_innen und deren freiwillige Selbstdisziplinierung hergestellt. Ganz offensichtlich zu den Lagern mit dem Ziel der Exklusion gehören hingegen Konzentrationslager. Hier werden anhand zuvor festgelegter Kriterien bestimmte Menschen vom Rest der Bevölkerung isoliert.
Konzentrationslager
Während die grundsätzliche Frage nach Inklusion oder Exklusion noch recht einfach zu beantworten ist, ist eine grundsätzliche Problematik der Gesamtheit aller als „Konzentrationslager“ bezeichneten Orte, dass zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten jeweils etwas anderes darunter verstanden wurde und wird. Eine wirklich verbindliche Definition, die über „ein Ort, an dem Menschen nach bestimmten Kriterien gesammelt und interniert werden“ hinausgeht, existiert nicht und existierte auch „vor Auschwitz“ nicht. Zwischen den Internierungslagern des Ersten Weltkriegs und den Orten, die zu allererst den Namen „Konzentrationslager“ bzw. „campos de concentración“ trugen, den „Wehrdörfern“ auf Cuba, in denen der spanische General Weyler i Nicolau ab 1896 die indigene Bevölkerung internieren ließ, um den Widerstand gegen die Kolonialherrschaft zu brechen, liegen Welten, ebenso wie sich die sowjetischen „konclagery“, die ab 1918 im Zuge des Bürgerkriegs eingerichtet wurden, grundlegend von den deutschen Lagern in Südwestafrika unterscheiden. Auch ein Beharren darauf, dass die Verengung der Bedeutung des Wortes „Konzentrationslager“ zumindest im deutschen Sprachraum im Sinne einer wirksamen Erinnerungs- und Gedenkpolitik auf die Bedeutung „NS-Zwangslager“ sinnvoll sei, ist für die Beantwortung der Frage, was ein Konzentrationslager ist – und damit auch, was nicht als solches gelten kann – kaum von Bedeutung. Obwohl auch 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs noch lange nicht klar ist, wie viele nationalsozialistische Zwangslager welcher Art es tatsächlich gegeben hat, lassen sich mindestens acht nationalsozialistische Lagersysteme identifizieren, die „wilden“ Konzentrationslager nach 1933 sowie Lager für Kinder und Jugendliche nicht mitgezählt, wie ein Blick allein in die Einleitung des von Wolfgang Benz und Barbara Diestel herausgegebenen neunbändigen Lexikons der nationalsozialistischen Zwangslager, „Der Ort des Terrors“, verrät. Auch eine formale Herangehensweise führt in die Irre: Formal gesehen zählen unter den NS-Zwangslagern nur diejenigen zu den „Konzentrationslagern“, die der „Inspektion der Konzentrationslager“ bzw. dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt unterstellt waren. Theresienstadt wäre demnach ungeachtet der dort herrschenden Bedingungen und seiner Rolle im System der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht als nationalsozialistisches Konzentrationslager zu betrachten.
Konzentrationslager und Vernichtungspolitik
Eine Verbindung zwischen Konzentrationslagern und einer Vernichtungsabsicht oder -politik lässt sich also auf diese Weise auch nicht herstellen. Auch andere Ansätze führen schlussendlich in die Sackgasse: Fragt man nach der Versorgung und Unterbringung der Insassen der Lager, so ergibt sich beispielsweise für die stalinistischen Lager des Gulag oftmals eine große Ähnlichkeit zu den Bedingungen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Im Kontext der These, dass Lagersysteme charakteristisch seien für totalitäre Systeme, wird dies oftmals als „Beweis“ dafür gesehen, dass Stalinismus und Nationalsozialismus weitestgehend gleichzusetzen seien. Auch im Gulag starben sehr viele Menschen an Krankheiten, bedingt durch katastrophale hygienische Bedingungen oder an den Folgen von Unterernährung, vielfach in Kombination mit körperlich auszehrender Zwangsarbeit. Die Ähnlichkeiten zur nationalsozialistischen „Vernichtung durch Arbeit“ drängen sich aus dieser Perspektive geradezu auf. Doch dieses Bild zerspringt, sobald man genauer hinsieht: Die katastrophalen Bedingungen im Gulag, so ähnlich sie teilweise denen in den nationalsozialistischen Lagern auch gewesen sein müssen, waren nicht das Resultat einer Vernichtungsabsicht, sondern vielmehr der Unfähigkeit, das riesige System von Arbeitslagern, das man geschaffen hatte, auch zu versorgen. Besonders deutlich wird dieser entscheidende Unterschied, wenn man sich die Extreme ansieht: Während im nationalsozialistischen Lagersystem körperlich wenig anstrengende und ungefährlichere Arbeiten die besten Überlebenschancen boten, war es im Gulag oft umgekehrt: Auch wenn Alexander Solschenizyn behauptete, die Katorga-Lager – Straflager, in denen die Häftlinge besonders schwere Zwangsarbeit leisten mussten – seien mit dem Zweck der „physischen Vernichtung“ eingerichtet worden, lag beispielsweise die Sterberate im Katorga-Lager Norilsk während des „Großen Terrors“, einer Zeit, in der diese im Gulag insgesamt aufgrund von Überbelegung und Desorganisation besonders hoch war, bei etwa 0,8 Prozent. Insgesamt überstieg die Sterberate im Gulag niemals 6 bis 7 Prozent. Rechnet man nur diejenigen, die in den drei Hauptlagern (Stammlager, Birkenau, IG-Farben-Lager Monowitz) und diversen Nebenlagern in Auschwitz tatsächlich als KZ-Häftlinge registriert wurden – diejenigen, die sofort nach ihrer Ankunft in die Gaskammern geschickt wurden, wurden niemals registriert und tatsächlich als Häftlinge ins eigentliche KZ aufgenommen – zusammen, lag die Überlebenschance in Auschwitz bei niemals mehr als 50 Prozent – die im Gulag bei über 90 Prozent. Die andauernden Bemühungen um eine Verbesserung der Versorgungslage und die Aufgabe solcher Lager, in denen es unmöglich war, der Lage Herr zu werden, sind weitere Belege dafür, dass eine solche Absicht im Stalinismus nicht bestand. Die Vorteile der Zwangsarbeit für die stalinistische Führung liegen auf der Hand, ungeachtet der Debatte darum, ob sich diese aus kapitalistischer Sicht gelohnt haben kann oder nicht: Ohne den Einsatz zehntausender Zwangsarbeiter_innen wäre beispielsweise der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals in nur zwei Jahren für die Sowjetunion kaum möglich gewesen. Selbst Spezialist_innen wurden verhaftet, verurteilt, zum Bau des Kanals eingesetzt und nach seiner Fertigstellung wieder entlassen. Um Menschen dazu zu bewegen, freiwillig nach Sibirien zu ziehen und dort aus dem Nichts Städte zu erschaffen, hätte es vermutlich auch mehr Anreize gebraucht als die Sowjetunion zu bieten hatte. Darüber hinaus bestand die Funktion des Lagersystems im Stalinismus in der Disziplinierung der Gesellschaft durch Abschreckung und Terror.
Vernichtungslager
Auch im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern spielten Sozialdisziplinierung durch Abschreckung und Terror eine große Rolle, soweit es die Gesellschaft außerhalb der Lager betraf. Keine Rolle spielten diese Faktoren jedoch im Hinblick auf die nationalsozialistischen Vernichtungslager. Sie können mit der eingangs zur grundsätzlichen Unterscheidung von integrativen und exklusiven Lagern verwendeten Frage nach ihrer Funktion klar von allen anderen Lagern abgegrenzt werden. Im Gegensatz zu Konzentrationslagern und allen anderen Formen von Lagern, die immer mehrere Funktionen erfüllen, hatten sie nur eine einzige: die möglichst effektive Organisation des Massenmords. Im Gegensatz zu Konzentrationslagern sind sie eine genuine Erfindung der Nationalsozialisten, die großen Aufwand in ihre Entwicklung investierten. Von den anfänglichen Experimenten mit zu mobilen Gaskammern umgebauten LKWs in Kulmhof zu den immer ausgefeilteren Gaskammern in Bełżec, Sobibór, Treblinka, Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek wurde die Methode des Massenmords an sich – das Vergasen – kaum verändert, die Effektivität durch allerlei technische Veränderungen jedoch immer weiter gesteigert. In Kulmhof, den drei Lagern der „Aktion Reinhardt“, Auschwitz-Birkenau und Lublin-Majdanek ermordeten die Nationalsozialisten innerhalb von drei Jahren insgesamt mindestens 2,5 Million Menschen, davon allein 1 Million in Auschwitz-Birkenau. Da diejenigen, die in die Vernichtungslager deportiert oder in Auschwitz an der Rampe selektiert wurden, im Gegensatz zu Konzentrationslager-Insass_innen nicht einmal mehr registriert wurden, ist die Zahl nicht mehr genau zu rekonstruieren. Hier und an den als Vernichtungsstätten bezeichneten Orten wie Babij Yar oder Maly Trostinec, vor allem im Osten Europas und auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion, fand der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden hauptsächlich statt. Ein Irrtum ist es allerdings, sie, wie es oftmals geschieht, „nicht als Lager im eigentlichen Sinne“ zu verstehen. Auch sie verfügten über alle Elemente, die man üblicherweise als Kriterien für Konzentrationslager ansieht: ein nach außen hin klar abgegrenztes und gesichertes Areal – Stacheldraht, Wachtürme – , Unterkünfte sowohl für Täter als auch Opfer, ebenso wie für die jüdischen „Sonderkommandos“ (siehe S. 52 ff), deren Ermordung lediglich aufgeschoben wurde. Es wurden Nutztiere gehalten und Obst und Gemüse angebaut, um die Wachmannschaften zu versorgen. In Treblinka gab es gar einen „Zoo“, ähnlich dem in Buchenwald, und mindestens ein Bordell. Auch verfügten alle Vernichtungslager mit Ausnahme Kulmhofs über einen Appellplatz. Was es nicht gab, war eine tatsächliche Überlebenschance. Aus Treblinka konnten während des Aufstands am 2. August 1943 zunächst etwa 250 Menschen fliehen, von denen schlussendlich jedoch nur 60 tatsächlich entkamen. Etwas Ähnliches gilt für Sobibór, wo es am 14. Oktober 1943 ebenfalls zu einem Aufstand kam. 46 von 150.000 bis 250.000 Menschen, die die Nazis in dieses Vernichtungslager deportierten, erlebten das Kriegsende.
Auschwitz als Ausnahme
Sieht man genauer hin, sind die Unterschiede und Trennlinien zwischen Konzentrationslagern, sei es allein den nationalsozialistischen oder der Gesamtheit aller als solche bezeichnete Lager und den Vernichtungslagern, die es einzig und allein im Nationalsozialismus gab und in denen mit geringfügigen, teils unbeabsichtigten Ausnahmen, ausschließlich diejenigen ermordet wurden, die der nationalsozialistischen Ideologie zufolge vollkommen vernichtet werden sollten – Juden sowie Sinti und Roma – deutlich zu erkennen. Ebenso wird anhand dieser Unterscheidung noch einmal besonders deutlich, was die nationalsozialistische „Endlösung“ von anderen Genoziden unterscheidet. Selbst bei der Frage danach, ob es sich überhaupt um einen solchen gehandelt hat, wie im Falle des stalinistischen Gulag, gibt diese Unterscheidung Aufschluss. Bei aller Kraft des Symbols „Auschwitz“ lohnt es sich demnach, diese Unterscheidung nicht aus den Augen zu verlieren.