„Die Anomalie Breivik“
Interview mit der Soziologin Mia Eriksson
2012 wurde Breivik zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Nach dem Schock über die Mordtaten setzte eine Debatte über den Täter und seine Motive ein. Die Soziologin Mia Eriksson von der Universität Göteborg hat zur Sicht der Öffentlichkeit auf den Täter Breivik geforscht.
Frau Eriksson, Sie haben jüngst eine Studie über die Rezeption der Mordtaten des Anders Behring Breivik verfasst. Was war der Fokus Ihrer Arbeit?
Ziel meiner Dissertation war es zu untersuchen, wie Breivik und die von ihm durchgeführten terroristischen Attacken erklärt und verstanden wurden. Ich wollte nachvollziehen, was den weißen norwegischen Terroristen ausmacht und wie über ihn gesprochen werden kann. Ich wollte den Fokus verschieben: weg von Breivik und hin zum gesellschaftlichen Kontext. Dafür habe ich die Bücher der norwegischen Journalist*innen Åsne Seierstad, Aage Borchgrevink and Erika Fatland untersucht. Außerdem eine Handvoll populärwissenschaftlicher und journalistischer Artikel. Gemein ist allen Texten, dass sie versuchen, Breiviks Radikalisierung anhand seiner Person zu erklären und dabei die sozialen und kulturellen Aspekte außer Acht lassen.
Wurden Breiviks Taten in der Öffentlichkeit als terroristische Anschläge bewertet?
Ja. Durch die Gewalttätigkeit der Angriffe und das von Breivik veröffentlichte Manifest ist es unmöglich gewesen, seine Aktionen nicht als Terrorismus einzustufen.
Wie ist denn die Sicht auf den Täter Breivik, der ja bis dahin ein eher unauffälliges Mitglied der norwegischen Mehrheitsgesellschaft war?
Natürlich gibt es verschiedene Sichtweisen in der Öffentlichkeit. Allerdings herrscht in den Texten, die ich untersucht habe, die Interpretation vor, Breivik sei eine Anomalie. Die Gründe für seine Radikalisierung werden in seiner Persönlichkeit und in seinen individuellen Erfahrungen gesucht, nicht in seinem politischen und sozialen Umfeld.
Wurden seine Verbrechen so schlussendlich entpolitisiert?
Ja, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Der politische Hintergrund der Taten wurde im Allgemeinen schon wahrgenommen. Allerdings wurden Breiviks Motive oft als „irrational“ oder „nicht wirklich politisch“ beschrieben. In den von mir untersuchten Texten werden seine politischen Überzeugungen zudem oft als Folge seiner psychologischen Disposition und seiner schwierigen Kindheit interpretiert, weniger als tatsächlicher Antrieb für seine Taten.
Breivik verfasste ein langes, in großen Teilen aus Beiträgen von rassistischen Autoren zusammenkopiertes „Manifest“, in dem er seine Ideologie darlegte. Fand eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Text statt?
Ja, allerdings wurde das Manifest vorwiegend als Ausdruck eines gestörten Geistes und nicht als politische Aussage behandelt. Ein Beispiel: Sein Manifest beinhaltet eine stattliche Menge homophober und frauenverachtender Passagen. Diese Aussagen werden aber nicht als Positionen wahrgenommen, die in einem politisch rechtem Spektrum zu verorten sind. Stattdessen werden sie als Beweise für Breiviks Kampf mit seiner eigenen Sexualität und seiner schwierigen Beziehung zu seiner Mutter verstanden. Es gab eine Tendenz, die Person Breivik anhand seines Manifests einer Psychoanalyse zu unterziehen. Es wurde hingegen kaum versucht, das politische Weltbild, welches das Manifest prägt, zu verstehen.
In einigen deutschen Medien wurden 2011 die Taten Breiviks in Bezug zu der rassistischen Agitation von rechten Bloggern gesetzt sowie Parallelen zwischen Breiviks Ideologie und der durch das rassistische Blog „Politically Incorrect“ verbreiteten Inhalte gezogen. Gab es eine ähnliche Diskussion auch in Skandinavien?
Solche Diskussionen wurden in der Tat geführt. Insbesondere darüber, ob und wie Breivik von Bloggern wie Fjordman und Gates of Vienna inspiriert wurde. Allerdings wurde daraus, zumindest in den Mainstream-Medien, an keiner Stelle der Schluss gezogen, dass die extreme Rechte in irgendeiner Form für Breiviks Taten mitverantwortlich gewesen sei. Die Gewalt diente hier als Trennlinie: Die extreme Rechte galt als ungefährlich und bis zu einem gewissen Grad als legitimer politischer Akteur, da ihr Nationalismus, Rassismus und so weiter als reine Rhetorik gesehen wurde. Breivik hat diese Überzeugungen hingegen in Gewalt umgesetzt. Damit hat er eine Grenze überschritten und wurde nicht mehr als Teil der extrem rechten Parteien und Organisationen angesehen, die lediglich darüber sprechen, welche Menschengruppen erwünscht und welche unerwünscht sind.
Sind Breiviks Beziehungen zur extremen Rechten untersucht worden oder galt er als „isolierter Einzeltäter“?
Es existiert eine Menge an Forschung zu seiner Beziehung zu rechten sowie extrem rechten Parteien und Organisationen. Aus dieser Forschung kann der Schluss gezogen werden, dass Breivik ideologisch in diesen Kontext gestellt werden kann und auch sollte, seine Terroraktionen jedoch von ihm alleine geplant und durchgeführt wurden. Leider haben diese Forschungsergebnisse außerhalb akademischer Kreise nur wenig Beachtung gefunden.
Hat sich die Sicht auf den Täter Anders Breivik durch den Prozess verändert?
Ich denke, den größten Wendepunkt stellte das Ergebnis der zweiten psychologischen Untersuchung Breiviks dar, die ihm attestierte, psychisch gesund zu sein. Denn damit hat sich die Wahrnehmung seiner Person verändert: Das Bild von einem irrational handelnden psychisch Kranken wurde langsam ersetzt. Breivik wurde nun immer mehr als kalt, berechnend und vor allem als narzisstisch wahrgenommen. Womit er für seine Taten die volle Verantwortung trägt.
Aktuell ist auch in Skandinavien im Zusammenhang mit der Debatte um Asylsuchende ein Anstieg rassistischer Gewalt zu verzeichnen. Sieht die Öffentlichkeit die Gefahr, dass sich rassistische Täter Breivik zum Vorbild nehmen und ähnliche Taten verüben könnten?
Es ist wirklich schwer, das zu beantworten. In dem Jahr nach den Anschlägen Breiviks war es in keinem skandinavischen Land möglich, mit ihm offen zu sympathisieren. Selbst extrem rechte Organisationen haben sich von Breivik distanziert. Ich denke, das hat über die Jahre nachgelassen. Nationalistische und rassistische Aussagen werden immer mehr als normal angesehen. Dadurch steigt das Risiko gewalttätiger Angriffe durch Gruppen und Einzelpersonen, die diesen Ideologien anhängen.
Vielen Dank für das Interview!