Mutterorganisation am Ende?
Die „Identitäre Bewegung“ in Frankreich
Die „Identitäre Bewegung Deutschland“ ist weitgehend am Ende, aber (noch) eine legale Vereinigung. Die als „Génération identitaire“ bekannte französische Mutterorganisation, die von „neurechten“ Netzwerkern in den deutschsprachigen Raum übertragen wurde, ist hingegen im März 2021 verboten worden. Dieses Verbot darf in seiner Wirkung nicht überschätzt werden.
Im sehr heterogenen Spektrum der extremen Rechten Frankreichs haben sich die neofaschistischen „Identitären“ in den vergangenen knapp zehn Jahren durch die strategische Nutzung digitaler Medien eine herausgehobene Stellung erarbeitet. Ihre bedeutendste Organisation, die in dieser Form seit 2012 bestehende Génération identitaire (GI), wurde zur wichtigsten Repräsentantin einer spezifisch europäischen Form des modernisierten Rechtsextremismus, der bis in die USA ausstrahlt und dort inzwischen als „Identitarianism“ bezeichnet wird. Die in Deutschland und Österreich als Identitäre Bewegung (IB) bekannten Organisationen sind mittelbare Ableger der GI, die sich allerdings seit geraumer Zeit im Niedergang befinden. Auch die französische Mutterorganisation, die in den 2010er Jahren mit geschickt inszenierten rassistischen und islamfeindlichen Propagandaaktionen viel mediale Aufmerksamkeit auf sich zog, entfaltete zuletzt deutlich weniger Aktionspotenzial, wenn ihre Stellung auch nie so prekär war, wie die der inzwischen kaum noch in Erscheinung tretenden Identitären Bewegung Deutschland. Ihre Mitgliederzahl wurde zuletzt auf 800 bis 1.000 geschätzt, die Hausprojekte im südfranzösischen Lyon („La Traboule“) und im nordfranzösischen Lille („La Citadelle“) haben bis heute Vorbildcharakter für die „Identitären“ außerhalb Frankreichs.
Eine rassistische Propagandaaktion zu viel
Nun aber setzte der französische Staat dem rassistischen Treiben der GI ein jähes Ende. Nachdem in den vergangenen Jahren immer wieder Rufe nach einem Verbot der GI laut wurden, beschloss die Regierung Frankreichs am 3. März 2021 per Kabinettsbeschluss offiziell ihr Verbot. Diese „Auflösung“ (dissolution) wurde unter anderem damit begründet, dass die GI zu „Diskriminierung, Hass und Gewalt aufstachelt“. Die Verabschiedung des entsprechenden Dekrets kam nicht überraschend, eine letzte verzweifelte Kundgebung von einigen hundert Unterstützer_innen am 20. Februar in Paris konnte daran nichts mehr ändern.
Vorausgegangen war diesem Vorgang eine Welle der Empörung, nachdem die Génération identitaire sich bereits zum zweiten Mal die Befugnisse staatlicher Exekutivorgane angemaßt und unangekündigt einen Abschnitt der französisch-spanischen Grenze in den Pyrenäen „gesichert“ hatte. Etwa 30 Aktivist_innen patrouillierten am 19. Januar 2021 an dem Gebirgspass Col du Portillon im Departement Haute-Garonne entlang der Grenze, um Migrant_innen ohne gültige Papiere am Grenzübertritt zu hindern. Sie inszenierten diese Farce gezielt medientauglich unter dem Motto
„Defend Europe“, sprachen von „Infiltrationszonen“ und stellten diese Amtsanmaßung als Abwehr einer „terroristischen Gefahr“ dar.
Neben einem noch laufenden Ermittlungsverfahren brachte diese migrantenfeindliche Propagandaaktion der GI auch den Zorn von Innenminister Gérald Darmanin ein. Der zeigte sich „in höchstem Maße empört“ und warf der GI „Unterwanderung der Republik“ vor. Am 26. Januar 2021 erging die Anweisung an seine Beamt_innen, belastendes Material für ein Verbotsverfahren zu sammeln.
„Diskurs des Hasses“ und „Privatmiliz“
In einem auf Grundlage dieses Materials verfassten Dokument wird der hinter dem Anschein einer bürgerlichen Fassade versteckte rassistische, gewaltverherrlichende und dezidiert islamfeindliche Charakter der Génération identitaire sehr präzise erfasst. Virulent in dieser Organisation sei demnach ein „Diskurs des Hasses“, der Menschen aufgrund „ihrer Herkunft, ihres ethnischen Hintergrundes und ihrer Religion“ als Ziele von Diskriminierung und Gewalt markiere. Einwanderung und Islam würden pauschal als Bedrohungen dargestellt, die die Franzosen bekämpfen müssten. Dieser „Diskurs des Hasses“ werde noch durch einen gewaltaffinen, betont kriegerischen Habitus verstärkt, der sich nicht nur in der häufigen Verwendung der Metapher vom „Krieg“, sondern auch in einer quasimilitärischen „Form und Organisation“ niederschlage. Beispielhaft werden intensives Kampfsporttraining und die „Sommeruniversitäten“ der GI genannt, in denen man sich auch auf Straßenkämpfe vorbereite. Die Génération identitaire habe damit „den Charakter einer Privatmiliz“, womit ausreichend Gründe für ein gesetzliches Verbot vorlägen. Erwähnt werden auch die Geldspenden, die der Rechtsterrorist von Christchurch an die französischen „Identitären“ leistete.
Ausgerechnet am Morgen des Verbotes am 3. März 2021 wurde ein brisantes Detail in diesem Zusammenhang publik: Der Mann, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 nicht-weiße Menschen muslimischen Glaubens ermordete, weil er in ihnen „Invasoren“ sah, war nicht nur Spender — er soll auch ein Fördermitglied der GI gewesen sein. 1.000 von insgesamt 2.200 Euro zahlte er demnach als Fördermitgliedsbeitrag, wie aus Sicherheitskreisen durchgestochen wurde.
Erbe einer Neonazi-Organisation
Vermutlich haben die mittlerweile zahlreichen rechtsterroristischen Anschläge, deren Urheber teils explizit ideologische Anleihen bei den „Identitären“ nahmen und von denen jener von Christchurch nur der bekannteste ist, entscheidend dazu beigetragen, dass dieses Verbotsverfahren nach einigen vorherigen Anläufen gelang. In gewisser Weise wiederholt sich damit die Geschichte der französischen „Identitären“, die bis in die Jahre 2002/2003 zurückreicht.
Damals formierte sich unter Führung von Fabrice Robert und Philippe Vardon der Bloc identitaire (BI), der am Anfang des als Identitäre Bewegung bekannten Labels steht. Der heute inaktive BI ging aus der nationalrevolutionären, neonazistischen und dezidiert antisemitischen Unité radicale (UR) hervor, einer kleinen, mit der deutschen NPD vergleichbaren Gruppierung, deren Agitation sich im Wesentlichen auf Straftaten von „Arabern, Schwarzen und Juden“ sowie das Anprangern von „Kollaborateuren“ konzentrierte. Als solcher wurde auch Staatspräsident Jacques Chirac betrachtet, der deshalb am 14. Juli 2002, anlässlich des Nationalfeiertags, Ziel eines
Anschlagsversuchs durch ein Mitglied des UR wurde.
Dieser vereitelte Anschlag, eine Einzelaktion des Neonazis Maxime Brunerie, führte zum gesetzlichen Verbot der Unité radicale, das am 6. August 2002 in Kraft trat. Ironischerweise verschaffte es der Splittergruppierung und deren Kadern neue Bekanntheit. Ausgestattet mit dem Gedankengut der „Nouvelle Droite“, deren Konzepte des „Ethnopluralismus“ und der „Identität“ verinnerlicht wurden (biologistisch aufgeladene Begriffe, hinter denen letztlich die alten Ideen von „Blut und Boden“ und „Rasse“ stehen), versuchten die ehemaligen UR-Köpfe sich den Anschein von Legalität und Mäßigung zu verleihen und gründeten im April 2003 formal den Bloc identitaire. Dessen Jugendorganisation, die Jeunesses identitaires, bestand bereits seit dem September 2002. Aus ihr sollte zehn Jahre später, im Herbst 2012, die Génération identitaire in der uns bekannten Form hervorgehen.
Eine alternative „sanfte Feindbestimmung“?
Im dem nach 2010 zunehmenden Repressionsdruck auf die Neonaziszene zu entgehen, gründete sich unter dem Eindruck der Geschehnisse in Frankreich auch die Identitäre Bewegung in Österreich, wo das Corporate Design der IB sich ab 2013 erstmals außerhalb Frankreichs etablierte und von wo aus die IB-Strukturen in Deutschland maßgeblich mit aufgebaut wurden. In jenem Jahr fand auch die „Sommeruniversität“ der französischen Mutterorganisation erstmals im internationalen Rahmen statt. Schon damals dort anwesend: Der Wiener Student Martin Sellner, wichtigste Figur der „Identitären“ im deutschsprachigen Raum. Sellner besuchte zusammen mit dem Publizisten Martin „Lichtmesz“ Semlitsch und dem Verleger Götz Kubitschek am 3. und 4. November 2012 den zweiten Konvent des Bloc identitaire im südostfranzösischen Orange. Dort wurde die Génération identitaire offiziell aus der Taufe gehoben, indem ihre führenden Aktivist_innen auf der Bühne geehrt wurden. Sie hatten nur zwei Wochen zuvor, am 20. Oktober, mit der Besteigung des Dachs einer Moschee-Baustelle in Poitiers und einer zeitgleich auf YouTube veröffentlichten „Kriegserklärung“ international für Aufsehen gesorgt. Sellner, Semlitsch und Kubitschek waren vom Auftreten der „Identitären“ wie elektrisiert und hofften auf die Möglichkeit einer taktischen Modernisierung. So äußerte Kubitschek dazu 2015 in dem Buch „Tristesse Droite“, er habe die Hoffnung gehegt, die IB könnte
„einen positiven Begriff von etwas haben (…), was wir bisher mit stark verbrannten Begriffen beschrieben haben: die ganze Identitätsfrage, dieses ,Wir und die Anderen‘, dieses ,Wir und Nicht-Wir‘.“
In Frankreich keineswegs „kontaminiert“
Derselbe Kubitschek stellte im Dezember 2019 fest, dass die IB nach deren Verwicklung mit dem Terroranschlag von Christchurch „bis zur Unberührbarkeit kontaminiert“ sei. Während diese Feststellung für Deutschland und auch Österreich zutreffend ist, kann in Frankreich davon keine Rede sein. Der Begriff des „Identitären“ ist dort zu tief verwurzelt, Allianzen etwa mit dem Rassemblement National (vormals Front National) zu gefestigt, als dass man die „Identitären“ als politisch tot bezeichnen könnte. Anders als die IB in Deutschland oder Österreich trat die Generation identitaire bis zuletzt unter ihrem Namen auf.
Auch das nun erfolgte Verbot der GI wird kein Ende der „identitären“ Strömungen in deren Mutterland nach sich ziehen. Tatsächlich zeitigt es nur eingeschränkt konkrete Folgen. Es wurde lediglich die Génération identitaire als formale Organisation aufgelöst. Hinsichtlich der Finanzierung durch Spendengelder ist das ein schwerer Schlag. Die Strukturen auf lokaler Ebene, die sich einst unter dem Dach des Bloc identitaire sammelten und aus denen schließlich die GI hervorgegangen ist, bleiben allerdings bestehen. So ist die „Traboule“ in Lyon, die der GI als nationale Zentrale und logistisches Basislager diente, weiterhin geöffnet, da ihr Betrieb über eigene legale Strukturen läuft. Gleiches gilt für die „Citadelle“ in Lille.
Wie wenig das gesetzliche Verbot der Génération identitaire unmittelbar ausrichtet, wurde erst am 20. März 2021 in Lyon deutlich, als ein antifaschistischer Buchladen von einer Horde Faschisten verwüstet wurde. Darunter waren mutmaßlich auch Mitglieder der inzwischen verbotenen GI, die dabei einen alten Schlachtruf verwendeten, der aus einer Zeit stammt, als sich die „Identitären“ von Lyon „Rebeyne“ nannten. Eine ähnliche Form der „Reregionalisierung“ wird zumindest kurz- bis mittelfristig womöglich auch in anderen Hochburgen der GI zu beobachten sein. Die Identitäre Bewegung als Spielart des Neofaschismus wird jedenfalls in Frankreich weiterhin eine nicht unbedeutende Rolle im Spektrum der extremen Rechten spielen.