„Eine Sache des Anstands“
Widerstand gegen „Neutralität“ und Aussitzpolitik in Simmertal
zwar wieder abgeklungen, allerdings wurde im Mai 2021 Simmertal im Landkreis Bad Kreuznach zum wöchentlichen Ausflugsziel für rechte und extrem rechte Impf- und Maskengegner*innen. Nach Drohungen und Beleidigungen trat die Simmertaler Bürgermeisterin, die federführend Gegendemonstrationen organisiert hatte, letztendlich zurück.
Der Ort mit 1.871 Einwohner*innen im Hunsrück liegt in einem Tal, umgeben von bewaldeten, langgezogenen Hügeln. Bis Mitte September demonstrierten hier die „Bürger-wie-du-und-ich“ wöchentlich gegen Impfung und Maskenzwang und für eine „Wiedereinsetzung“ von Grundrechten. Ortsbürgermeisterin Christina Bleisinger (SPD) stellte sich den Auftritten entgegen. Doch der Gemeinderat beschloss, sich „neutral“ zu verhalten. Also organisierte sie als Privatperson Gegendemonstrationen. Anfang September trat Bleisinger zurück, um wegen der Blockadehaltung ihr gegenüber „Schaden von der Gemeinde abzuwenden“. Der Schaden war allerdings bereits entstanden. Mit seinem Verständnis von Neutralität hatte der Gemeinderat die Demos der „Bürger-wie-du-und-ich“ ermutigt, ihre Kampagne fortzusetzen.
Rechter geht immer
Bei den bis zu 80-köpfigen „Spaziergängen“ wurden keine Reden gehalten, sondern lediglich die Demonstrationsauflagen verlesen und „Querdenken“-Parolen wie „Frieden, Freiheit, Demokratie!“ skandiert. Eine Abgrenzung von Rechten fiel jedoch offenbar schwer. So wurden bereits ihre ersten Auftritte vom AfD-Kreisvorstandsmitglied Karl-Eugen Kaiser aus Simmertal organisiert. Der „politische Widerstandskämpfer“ schreibt Gedichte für den extrem rechten Blog jouwatch, die auch auf der Homepage des AfD-Kreisverbands Bad Kreuznach gepostet werden. Mit ihm zusammen „spazierte“ Gabriele Bublies-Leifert. Die ehemalige Landtagsabgeordnete musste im vergangenen Jahr die AfD wegen nicht gezahlter Mitgliedsbeiträge verlassen. Allerdings dürften bei ihrem Rauswurf auch ihre Sympathien für den „Flügel“ um Björn Höcke eine Rolle gespielt haben. Doch noch rechter geht immer: Zu den regelmäßigen Gästen auf den „Spaziergängen“ gehört beispielsweise auch Hermann-Josef Knichel. Der frühere Kreisvorsitzende der NPD zerstritt sich mit seiner Partei, als diese im Zuge einer Umstrukturierung seinen Kreisverband auflöste.
Ob Rechte an den Demonstrationen teilnehmen, könne sie nicht sagen, so Nicole Seibert, Kaisers Nachfolgerin als Demoanmelder*in. Von Politik wolle sie auch nichts wissen, ihr ginge es um die „indirekte Impfpflicht“ und dass ein „Infektionsschutzgesetz aus dem Nichts hergebracht“ worden sei, das sie in ihrer Freiheit einschränke. Die Teilnehmenden ihrer Demos kämen aus einem „inzwischen sehr großen Umkreis“. Teilnehmen dürfte „jeder, der sich an die Regeln hält“. Seibert ist Teil des Kandel-Teams, einer Chatgruppe, die die rassistischen Demonstrationen in Kandel organisiert. Sie kommt selbst nicht aus Simmertal.
Eskalation
Dem AfD-Kreisverband, in dem Kaiser organisiert ist, gehört auch Nicole Höchst (MdB) an. Als diese am 17. Mai ein Werbevideo aus Simmertal in den sozialen Medien teilte, bekamen die Demonstrationen überregionalen Zulauf. In der Folge begann der Terror. Erst in Form von Hasskommentaren, später mit direkten Angriffen. Bei der Bürgermeisterin klingelte nachts das Telefon, und Demonstrationen führten bewusst direkt an ihrem Haus vorbei, worüber die Teilnehmenden auch informiert wurden. Nicht ohne Wirkung: „Jetzt kontrolliere ich sogar immer die Radmuttern, bevor ich losfahre“, sagt Bleisinger. Und das nicht ohne Grund. Als sie anlässlich einer der ersten Demonstration ihr Auto bei Bekannten abstellte, um sich die Aktion anzuschauen, fanden diese am nächsten Morgen die Reifen ihres eigenen Autos durchstochen vor. Jugendliche aus dem Dorf, die sich gegen die Rechten engagierten, wurden eingeschüchtert. Bei einem Ordner der Gegendemonstration schrieb jemand „Hier wohnt ein Kinderficker“ an die Hauswand. Die Strategie hatte Erfolg. Die wenigen Simmertaler*innen, die sich Bleisinger gegenüber gegen die rechten Demos ausgesprochen hatten, unterließen es aus Angst, ihre Position öffentlich zu vertreten. Die Mehrheit im Dorf wollte die Situation aussitzen. Nachdem dann Antifaschist*innen nach Simmertal gereist waren, gingen bei der Polizei Hinweise auf schwarzgekleidete Personen ein, die nachts Minderjährige ansprächen. Später wurde Bleisinger zum Vorwurf gemacht, sie habe „die Antifa“ ins Dorf geholt.
Demokratiedefizite
Der Konflikt um den richtigen Umgang mit den Demos verlagerte sich in den Gemeinderat. Der besteht neben der SPD-Fraktion aus der Freien Wählergemeinschaft (FWG) — bei FWG-Mehrheit. Die Durchführung einer Bürger*innenversammlung lehnte der Gemeinderat ab. Stattdessen wurden die Demoorganisator*innen um Seibert mehrmals zu einem Gespräch am „Runden Tisch“ eingeladen. Diese verzichteten.
Während mehrere Angehörige von Mitgliedern der FWG-Fraktion an den Demonstrationen teilnahmen, forderte der Gemeinderat Neutralität von Bleisinger und schaltete Landrätin Bettina Dickes (CDU) ein. Die FWG forderte sogar Bleisingers Rücktritt, die SPD erwartete von ihr eine Aussöhnung mit dem Gemeinderat. In ihrer Rücktrittsrede schließlich warf Bleisinger dem Ersten Beigeordneten Jürgen Tatzke (FWG) vor, „am Rande der Demonstration“ Sekt mit Seibert zu trinken. Nach ihrem Rücktritt übernahm vorerst Helmut Hein (FWG) stellvertretend für Tatzke die Amtsgeschäfte, da dessen Gesundheitszustand das vorerst nicht ermöglichte. Mit Hein trafen sich die „Bürger-wie-du-und-ich“ nun zu einem „konstruktiven Gespräch“. Anschließend gaben sie in einer Pressemitteilung vom 20. September bekannt, ihre Demonstrationen pausieren zu lassen. Die Situation wäre durch „die Antifa“ unzumutbar geworden. Sie dankten dem Gemeinderat und lobten seine neutrale Haltung. Unklar ist, ob der am gleichen Tag bekannt gewordene Mord an dem 20-jährigen Tankstellenmitarbeiter Alexander W. im 25 Kilometer entfernten Idar-Oberstein dabei eine Rolle spielte. Der Täter, Mario N., gab an, er habe ein Zeichen gegen die Coronabekämpfungspolitik setzen wollen.
Ausblick
Hein kann sich vorerst als Simmertals Erlöser inszenieren. Anschließend wird Jürgen Tatzke das Amt des Ortsbürgermeisters übernehmen. Ob damit nun ein Ende der Demos erreicht ist, bleibt fraglich, diese könnten jederzeit wieder aufgenommen werden. Eine kommunale Aussetzung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie werden die „Bürger-wie-du-und-ich“ aber auch mit der FWG nicht erreichen. Es wäre zudem naiv zu glauben, dass die Ziele der Teilnehmenden der Demonstrationen in Simmertal sich hierauf beschränken würden, ebenso wie die Vorstellung, dass diese nicht genau wüssten, mit wem sie auf die Straße gehen. Selbst wenn die rechte Kampagne zur Ablehnung der Corona-Schutzmaßnahmen nicht mehr lange tragen sollte, so bleibt festzuhalten, dass die „Bürger-wie-du-und-ich“ es in Simmertal geschafft haben, eine kontinuierliche Demonstrationsreihe auf die Straße zu bringen. Hier wurden Strukturen aufgebaut, auf die auch zukünftig zurückgegriffen werden kann. Die kommunale „Neutralitäts“- und Aussitzpolitik hat hierzu beigetragen.