„Verändertes Erinnerungsregime“?

Deutungskämpfe um die Vergleichbarkeit kolonialer und NS-Verbrechen

In den letzten Jahren gewinnen Sichtweisen, die Erinnerungen hör- und sichtbar machen, die von rassistischer Diskriminierung und kolonialer Unterdrückung erzählen, mehr und mehr an Aufmerksamkeit. Es entzündete sich eine Debatte, in deren Zentrum die Frage nach der Vergleichbarkeit der Shoah mit kolonialen Verbrechen steht. Ungeachtet der Aufregung der Debatte geht es jedoch gar nicht um ein Ob, sondern vielmehr um das Wie.

In den letzten Jahren gewinnen Sichtweisen, die Erinnerungen hör- und sichtbar machen, die von rassistischer Diskriminierung und kolonialer Unterdrückung erzählen, mehr und mehr an Aufmerksamkeit. Es entzündete sich eine Debatte, in deren Zentrum die Frage nach der Vergleichbarkeit der Shoah mit kolonialen Verbrechen steht. Ungeachtet der Aufregung der Debatte geht es jedoch gar nicht um ein Ob, sondern vielmehr um das Wie.

An Prominenz fehlte es nicht am Vormittag des 22. September 2021 im Berliner Humboldt Forum. Anlässlich der Eröffnung des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst in den Räumen des wiedererrichteten Berliner Stadtschlosses waren Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) ebenso erschienen wie Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Hartmut Degerloh, Generalintendant der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Stadtschloss. Die Eröffnungsansprachen hielten Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und die vielfach international ausgezeichnete nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Die medial stark beachtete Veranstaltung verlief keineswegs so harmonisch wie es sich die Stiftungen Preußischer Kulturbesitz und Humboldt Forum wohl erhofft hatten. Vor dem Stadtschloss protestierten rund 150 Demonstrant*innen gegen die Ausstellung kolonialer Raubkunst und forderte die Restitution von Objekten, die unter dem Eindruck kolonialer Machtverhältnisse in deutschen Besitz gerieten.

An diese kritischen Interventionen knüpfte Chimamanda Ngozi Adichie in ihrer Ansprache an. Mit Blick auf Deutschland, aber auch auf die anderen vormaligen europäischen Kolonialmächte postulierte die Schriftstellerin: „Eine Nation, die an das Rechtsstaatsprinzip glaubt, kann unmöglich darüber debattieren, ob sie gestohlene Güter zurückgibt. Sie gibt sie einfach zurück.“ Zudem kritisierte sie den vom Humboldt Forum formulierten Anspruch, „die Universalgeschichte der Menschheit aus vielen Perspektiven zu erzählen“ als „lückenhaft“, so lange historische wie gegenwärtig bestehende (post)koloniale Machtverhältnisse und somit die Frage „Wer hat das Recht, den anderen auszustellen?“ nicht thematisiert würden. Vielmehr habe Europa „einen Weg gefunden, seine Kolonialgeschichte so zu erzählen, dass sie sich letztlich in Luft auflösen soll“.

Unvergleichbar?

Die Auseinandersetzungen um das koloniale Erbe Deutschlands beziehen sich somit nicht nur auf materielle Aspekte wie die von Museen und universitären Sammlungen über Jahrzehnte hinweg verschleppte Rückgabe von gestohlenen beziehungsweise unter fragwürdigen Umständen erworbenen Objekten und bislang von der Bundesrepublik verweigerte Reparationsleistungen für die in kolonialen Kontexten verübten Verbrechen — wie etwa den Genozid an den Herero und Nama 1904/1905 –, sondern auch auf die historische und erinnerungskulturelle Verortung kolonialer Gewaltherrschaft an sich. Im Fokus steht dabei die Frage nach Kontinuitätslinien und Brüchen zwischen den Verbrechen des Kolonialismus und der NS-Vernichtungspolitik. Diskutiert wird, ob und in welchem Maße beide Verbrechenskomplexe verglichen und miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Seit dem Beginn der 2000er Jahre haben postkolonial ausgerichtete Forschungen wiederholt einen kausalen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus hergestellt und — plakativ formuliert — einen historischen Pfad von „Windhuk nach Auschwitz“ nachzuzeichnen versucht, etwa indem sie auf die Errichtung von Konzentrationslagern durch die deutsche Kolonialherrschaft im Kontext des Genozids an den Herero und Nama verwiesen oder auf Ähnlichkeiten im Hinblick auf koloniale und nationalsozialistische Rasse- und Raumkonzeptionen. Kontroversen entzünden sich in diesem Zusammenhang an der Deutung der Shoah als ein präzedenzloses, in seinen Dimensionen und den weltanschaulichen Motiven singuläres Verbrechen. In manchen von postkolonialen Theorien geprägten Interpretationen erscheint der Massenmord an den europäischen Jüdinnen*Juden hingegen als ein Genozid, der sich von Völkermorden in kolonialen Kontexten allenfalls graduell, nicht aber qualitativ unterschieden habe. Ohne dabei grundsätzlich die Brutalität von Kolonialregimen in Frage zu stellen, hat wiederum der Historiker und Shoah-Überlebende Saul Friedländer betont, dass die NS-Vernichtungspolitik durch einen über den Kolonialrassimus hinausweisenden „Erlösungsantisemitismus“ gekennzeichnet gewesen sei, der Jüdinnen:Juden nicht als kolonial „Andere“, sondern als zu vernichtende „Gegenrasse“ konstruiert habe.

An diese divergierenden Deutungsmuster, die um die Begriffe „Singularität“ und „Vergleichbarkeit“ der Shoah kreisen, knüpfen sich weitere erinnerungskulturelle Konfliktlinien. Während etwa der Historiker Jürgen Zimmerer und der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in einem Beitrag für Die Zeit im März 2021 forderten, im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Shoah und der kolonialen Gewaltgeschichte historische Vergleiche zu „enttabuisieren“, die Geschichtsschreibung zu „globalisieren“ und das Gedenken im Sinne multidirektionaler, auch koloniale Erfahrungen aufnehmender Erinnerungspraktiken zu „pluralisieren“, insistierten andere Autor*innen wie etwa Claudius Seidl in der FAZ darauf, dass sich „deutsche Verantwortung“ nicht globalisieren lasse, die Shoah somit nicht in einem Atemzug mit dem Kolonialismus diskutiert werden könne. Der Publizist Maxim Biller sah bezugnehmend auf Zimmerer, Rothberg und den australischen Genozidforscher Dirk Moses in einem im September 2021 ebenfalls in Die Zeit veröffentlichten Text „neue Relativerer“, gar „Holocaustleugner light“ am Werk, die damit beschäftigt seien, „das so genau vorstellbare Unvorstellbare des Sechs-Millionen-Mordes dadurch kleinzureden und wegzudiskutieren, dass sie es immerzu manisch mit anderen Massenpogromen und Vernichtungsorgien vergleichen“.

Die gegenwärtigen Debatten um die historischen und erinnerungskulturellen Bezüge zwischen der NS-Vernichtungspolitik und kolonialen Verbrechen sind somit erkennbar von Polemiken, gegenseitigen Unterstellungen sowie der Konstruktion von Opferkonkurrenzen gekennzeichnet. Ferner ist zu beobachten, dass die unterschiedlichen Ebenen der Diskussion häufig durcheinandergeraten, indem sich geschichtspolitische Interpretationen mit Kontroversen um das tatsächliche historische Geschehen wechselseitig überlagern.

Vom „Historikerstreit“…

In dieser Hinsicht erscheinen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen — wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen — als Wiederauflage des in den Jahren 1986/1987 ausgetragenen „Historikerstreits“, an dem ähnlich wie heute keineswegs nur Historiker*innen beteiligt waren. Auch vor 35 Jahren entzündeten sich die Kontroversen an der Frage von Vergleichbarkeit und Singularität der Shoah. Die damalige Auseinandersetzung vollzog sich vor dem Hintergrund der geschichtspolitischen Agenda der seit Herbst 1982 amtierenden schwarz-gelben Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), die einen „normalisierten“ Umgang mit der NS-Vergangenheit postulierte und, so die Befürchtung zahlreicher Beobachter*innen, auf die „Entsorgung“ einer sich gerade erst etablierenden kritischen Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus hinauslief. Diese Tendenzen schienen sich auch in einem viel beachteten Artikel des Berliner Historikers Ernst Nolte zu spiegeln, der die These vom „kausalen Nexus“ zwischen den Verbrechen des Stalinismus und der NS-Vernichtungspolitik vertrat: Das stalinistische Lagersystem, der Gulag, sei „ursprünglicher“ als Auschwitz, der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Jüdinnen*Juden lediglich eine Reaktion auf den Bolschewismus gewesen. Eine Reihe rechtskonservativer Historiker*innen und Publizist*innen stellten sich an seine Seite und reklamierte die Vergleichbarkeit beider Verbrechenskomplexe, während vorwiegend linke und linksliberale Autor*innen vor einer Relativierung des Nationalsozialismus warnten und auf die Präzedenzlosigkeit der Shoah insistierten.

Den Referenzrahmen des „Historikerstreits“ der 1980er Jahre bildeten somit geschichtspolitische Vorstöße, die darauf abzielten, antikommunistisch aufgeladene und die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen relativierende Positionen in den hegemonialen erinnerungskulturellen Diskursen der Bundesrepublik zu verankern und gegen eine nicht zuletzt von Geschichtswerkstätten forcierte und durch die breite Rezeption der 1979 ausgestrahlten amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ weiter verstärkte, kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Stellung zu bringen.

…zum „Historikerstreit 2.0“?

War der „Historikerstreit“ vor allem eine bundesdeutsche Debatte, in der der Topos der „Vergleichbarkeit“ einer verengenden, exkulpierenden Perspektive auf die deutsche Geschichte den Weg ebnen sollte, bilden für den „Historikerstreit 2.0“ (Michael Rothberg) transnationale und sich globalisierende Erinnerungskulturen den diskursiven Rahmen. Eine „rein nationale Erinnerung“, so urteilt der Historiker Sebastian Conrad, sei „kaum mehr denkbar“. Die deutsche Vergangenheit werde nicht mehr nur in Deutschland und fokussiert auf die Zeit des Nationalsozialismus verhandelt, sondern in einen globalgeschichtlichen Kontext gestellt, in dem Rassismus und koloniale Machtverhältnisse keine ausschließlich historischen Kategorien darstellen, sondern auf gegenwärtige gesellschaftliche und politische Realitäten verweisen. Diese Perspektiven spiegeln sich in den „Black Lives Matter“-Demonstrationen ebenso wie in den Forderungen nach Restitutionen und Reparationen im Zusammenhang mit kolonialen Verbrechen und nicht zuletzt in den rassismuskritischen, (post)migrantischen Bewegungen, die sich in Folge der Anschläge von Hanau und Halle sowie der Selbstenttarnung des NSU formiert haben.

Die Motive und Intentionen jener, die sich gegen eine postkoloniale erinnerungskulturelle Perspektiverweiterung positionieren und dabei auch auf die Präzedenzlosigkeit der Shoah verweisen, sind indessen höchst unterschiedlich. Sie reichen von grundlegenden ressentimentgeladenen Haltungen gegenüber vermeintlicher „Political Correctnes“ und einer angeblichen „Cancel Culture“, die in diskreditierender Absicht bevorzugt mit rassismuskritschen und postkolonialen Positionen in Verbindung gebracht werden, bis hin zu berechtigter Kritik an tatsächlich zu beobachtenden Tendenzen, die Shoah zu relativieren, den Staat Israel zu delegitimieren und Opferkonkurrenzen aufzubauen. Beispielhaft steht hierfür der bereits erwähnte Genozidforscher Dirk Moses, der im Mai 2021 einen „Katechismus der Deutschen“ beklagte, in dem der Shoah ein „ikonischer Status“ zukäme. Dieser werde, polemisiert Moses, durch „Hohepriester“ und „Glaubenswächter“ durchgesetzt, die sich einer „theologisch imprägnierten Vorstellung von der Einzigartigkeit des jüdischen ‚Opfers‘ verpflichtet“ sähen. Dies geschehe mit der Absicht, sich von der „politischen Klasse Israels und den USA anerkennend den Kopf tätscheln zu lassen“. Mit der Unterstellung, die Erinnerung an die Shoah weise in Deutschland gleichsam religiöse Züge auf und sei in letzter Instanz von den politischen Eliten in Israel und den USA gesteuert, bewegt sich Moses nah an sekundärantisemitischen Argumentationsmustern und der Rhetorik der extremen Rechten, in der in ähnlichem Gestus vom „Schuldkult“ die Rede ist. Es verwundert daher nicht, dass auch Martin Sellner, Frontmann der Identitären Bewegung, positiv auf Dirk Moses Bezug nimmt. Indes: Diese Polemik stellt lediglich eine Facette der Debatte dar, die nicht zuletzt aus antifaschistischer Perspektive deutlich kritisiert werden sollte. Eine grundlegende postkoloniale Erweiterung erinnerungskultureller Perspektiven und Praktiken erscheint jedoch überfällig. „Das Ergebnis“, betont Sebastian Conrad, „muss dabei keineswegs eine Konkurrenzsituation sein, die Verdrängung einer Perspektive durch eine andere“. Die Frage laute nicht ob, sondern wie man sich auf ein „verändertes Erinnerungsregime“ einlasse.

Multidirektionale Erinnerung…

Der von Michael Rothberg formulierte Ansatz der „Multidirektionalen Erinnerung“, der im Rahmen des „Historikerstreits 2.0“ ebenfalls kontrovers diskutiert wird, könnte für diesen Prozess anregende Impulse liefern. Ausgehend von seiner These, dass Erinnerungspraktiken von auf den ersten Blick unterschiedlichen Akteur*innen häufig aufeinander bezogen sind, ohne in einem Konkurrenzverhältnis zu stehen, formuliert Rothberg die optimistisch anmutende Perspektive, dass miteinander kommunizierende Erinnerungen einen Ausgangspunkt für Empathie und Solidarität darstellen und somit eine Möglichkeit eröffnen, „einen neuen Rahmen für Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt“ zu entwickeln. In diesem Kontext verweist Rothberg auf die Geschichte der Erinnerung an die Shoah, die vielfach durch Wechselwirkungen und Verwobenheiten mit der Auseinandersetzung um Rassismus und Kolonialismus geprägt worden sei. So hätten etwa der antikoloniale Befreiungskampf in Algerien und das von der französischen Polizei angerichtete Massaker an algerischen Demonstrant*innen in Paris im Oktober 1961 die Erinnerung an die Shoah in Frankreich aktualisiert. Die sich allmählich entwickelnden auf die NS-Verbrechen bezogenen Gedenkkulturen hätten wiederum die kritischen Perspektiven auf den Kolonialismus beeinflusst. Der Historiker Gil Shohat verweist darauf, dass sich während der 1930er Jahre Schwarze antikoloniale Aktivist*innen, etwa der spätere kenianische Präsident Jomo Kenyatta, mit den in Deutschland verfolgten Jüdinnen*Juden solidarisierten und es umgekehrt innerhalb der jüdischen Bevölkerung Londons Solidarisierungen mit Schwarzen antikolonialen Organisationen gab. Bekannt ist auch, dass zahlreiche Jüdinnen*Juden, die der NS-Vernichtungspolitik entkommen waren, in den USA während der 1950er und 1960er Jahre die Schwarze Bürgerrechtsbewegung unterstützten.

… und verflechtungsgeschichtliche Ansätze

Neben diesen multidirektionalen Ansätzen, die die Möglichkeit eröffnen, die Geschichte von Erinnerungspraktiken und ihrer Akteur*innen aus einer mehrperspektivischen, transnationalen Perspektive zu betrachten, finden sich jenseits der aufgeregten Kontroversen des „Historikerstreits 2.0“ in gedenkstättenpädagogischen Ansätzen bereits seit einigen Jahren Zugänge und Konzepte, die die Verwobenheiten von Kolonialismus und Nationalsozialismus thematisieren, ohne dabei die Präzedenzlosigkeit der Shoah zu relativeren. Zu nennen ist hier etwa das maßgeblich von Susann Lewerenz, Historikerin am Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, konzipierte Projekt „Verflechtungen — Koloniales und rassistisches Denken im Nationalsozialismus“, das ausgehend von exemplarischen Biografien von People of Color Aspekte der Kolonialgeschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Verbindung setzt, mit dem Ziel, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen kolonialen Rassismen und anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit, etwa Antisemitismus, Antiziganismus und Antislawismus, herauszuarbeiten. Die in diesem Projekt erarbeiteten Bildungsmaterialien sollen dazu anregen, den Nationalsozialismus in einem transnationalen, globalgeschichtlichen Kontext zu sehen und „zu einer rassismuskritischen Sensibilisierung beitragen“, um „Anstöße für eine multiperspektivische und inklusive Erinnerungskultur [zu] geben“. Diese sehr konkreten, auf Biografien und lokale Kontexte heruntergebrochenen Ansätze vermitteln im Gegensatz zu den bisweilen scheinbar unversöhnlich geführten Kontroversen des „Historikerstreits 2.0.“, wie in geschichtswissenschaftlicher, pädagogischer und erinnerungskultureller Perspektive eine verflechtungsgeschichtlich orientierte Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Nationalsozialismus aussehen kann, die unterschiedliche Erfahrungen sichtbar macht, ohne die eine gegen die andere auszuspielen.

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