Zahnloser Tiger

Der „UNA 20/1“ im hessischen Landtag

Noch während des laufenden Strafprozesses gegen Stephan Ernst und Markus H. wegen des Mords an den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke beschloss der hessische Landtag am 25. Juni 2020 auf Antrag der Fraktionen SPD, FDP und „Die Linke“ die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des behördlichen Handelns rund um Ernst und H. Seit Ende März 2021 finden nun die öffentlichen Sitzungen des „UNA 20/1“ statt. Große Hoffnungen auf Antworten sollte man sich aber nicht machen.

Noch während des laufenden Strafprozesses gegen Stephan Ernst und Markus H. wegen des Mords an den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke beschloss der hessische Landtag am 25. Juni 2020 auf Antrag der Fraktionen SPD, FDP und „Die Linke“ die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des behördlichen Handelns rund um Ernst und H. Seit Ende März 2021 finden nun die öffentlichen Sitzungen des „UNA 20/1“ statt. Große Hoffnungen auf Antworten sollte man sich aber nicht machen.

Während des Strafprozesses wurde nur wenig über die Einbindung von Stephan Ernst in die Kasseler Szene, seine fanatischen Aufzeichnungen zur Vorbereitung potenzieller Anschläge und seine „Anti-Antifa“-Arbeit bekannt. Ein Großteil des umfangreichen Akteninhalts wurde ausschließlich im Selbstleseverfahren in die Beweisaufnahme eingeführt und nicht weiter thematisiert. Bei einem Selbstleseverfahren geht das Gericht davon aus, dass die Prozessbeteiligten den Inhalt der jeweiligen Akten mittels Selbststudium zur Kenntnis nehmen und hinsichtlich einer etwaigen näheren Thematisierung zu bewerten wissen. Mehrfach wurde aber klar, dass es offenbar recht willkürlich war, was zum Thema gemacht wurde und was nicht. So wurde die Teilnahme Ernsts an einer von Thorsten Heise organisierten Sonnenwendfeier sowie seine Beteiligung an einer „Hausverteidigung“ bei Heise nur deshalb thematisiert, weil Markus H.s Verteidigung — Björn Clemens und Nicole Schneiders — das Kennverhältnis von Ernst und Heise als entlastenden Faktor eingebracht hatten. Da Ernst auch 2011 noch Kontakt zu Szenegrößen wie Heise gehabt hätte, so die Argumentation der Verteidigung, hätte es nicht einer von der Anklage behaupteten und von H.s Verteidigung in Abrede gestellten Radikalisierung durch H. bedurft. Eine solche sei damit widerlegt.

Auch holte sich das Gericht keine fachkundige Unterstützung zur Einschätzung der politischen Dimension der Taten ein. Ernsts spezifische Ausprägung extrem rechter Vernichtungsphantasien wurde nicht sachkundig eingeordnet. Das meiste Wissen über die ideologischen Hintergründe wurde somit von Ernst selbst durch seine Geständnisse und Einlassungen geliefert. Hochbrisant, wenn man bedenkt, dass bei Ernst Aufzeichnungen zum strategischen Umgang mit Ermittler_innen in Verhören gefunden wurden. Sowohl im Prozess gegen den Attentäter von München im Jahr 2016 als auch im Halle-Prozess konnte eine politikwissenschaftliche Analyse der Ideologie zusätzlich zum psychiatrischen Gutachten helfen, die politische Dimension der Taten einzuordnen.

All das ist nicht geschehen. Zurück blieben die offenen Fragen aus der Nebenklage und der kritischen Öffentlichkeit. Ein Teil der Fragen soll nun im hessischen Parlament erneut gestellt werden, doch auch hier zeigen sich schnell die Grenzen der Möglichkeiten.

„UNA 20/1“

Ein Besuch des Untersuchungsausschusses gestaltet sich für die Öffentlichkeit sehr unattraktiv. Die Sitzungen des „UNA 20/1“ finden im Parlamentssaal des hessischen Landtags unter Corona-Bedingungen statt. Das bedeutet nur wenige Plätze für Besucher*innen und Presse, ein Anmeldeverfahren, das die Hürden eines Besuchs erhöht, und ein größerer Zeitaufwand durch verpflichtende Tests im Foyer des Landtages. Presse und Besucher_innen sitzen auf den Rängen des Saales, die mangelnde Sicht und schlechte Akustik machen es schwer, dem Geschehen zu folgen. Der Vorschlag der Fraktion Die Linke, die Sitzungen online zu übertragen, wurde abgelehnt.

Allzu oft aber müssen sich Interessierte nicht auf den Weg in die Landeshauptstadt machen, der Ausschuss tagt seit Beginn der öffentlichen Sitzungen Ende März nur einmal monatlich. Bisher haben fünf Sitzungen stattgefunden. Der entspannte Zeitplan wird der Aufgabe des Ausschusses durchaus gerecht, denn der Untersuchungsauftrag ist eng gesteckt. Gegenstand ist laut Einsetzungsbeschluss, das „Handeln und Unterlassen der Hessischen Landesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden und hier im Besonderen der hessischen Sicherheitsbehörden aufzuklären, das im Zusammenhang mit der Beobachtung der Personen Stephan E. und Markus H. und deren Umfeld durch den Verfassungsschutz steht oder stehen könnte[…]“ sowie „aufzuklären, inwieweit die Hessische Landesregierung und hier insbesondere der zum jeweiligen Zeitpunkt amtierende Innenminister das Parlament und die Öffentlichkeit hierüber sowie über ihre Kenntnisse zu neonazistischen Strukturen in Nordhessen wahrheitsgemäß, zeitnah und vollständig informiert hat“.

Der Ausschuss wird sich also vor allem mit der Arbeitsweise des „Verfassungsschutzes“, der Polizei, der Waffenbehörde und der Landesregierung in Bezug auf die beiden Personen beschäftigen. Bisher steht zum Beispiel die Frage im Mittelpunkt, wie Ernst und H. von den Behörden eingeschätzt wurden und warum Ernst vom VS noch 2009 in einem Vermerk als „brandgefährlich“ und wenige Jahre später als „abgekühlt“ beschrieben worden sein soll.

Eine umfassende Aufarbeitung potenziell rechtsterroristischer Strukturen in Nordhessen mitsamt der Verstrickungen der Inlandsgeheimdienste, wie sie nach mindestens zwei Morden und diversen anderen schweren Gewalttaten sowie angesichts der Bedeutung der Kasseler Strukturen und Personen für die bundesweite extreme Rechte notwendig wäre, wird nicht stattfinden. Die Organisationen der Kasseler Neonazi-Szene spielen nur insoweit eine Rolle, wie Ernst und H. direkt in diese eingebunden waren, Kontakte sind nur in Bezug auf diese beiden relevant.

Eindeutige Gutachten

Über mangelnde politische Einordnung können sich die Abgeordneten im Ausschuss nicht beschweren. Die Sachverständigen zeichneten bis auf eine Ausnahme — der ehemalige Leiter der Abteilung „Linksextremismus“ des BfV, Rudolf van Hüllen, hatte wie zuvor im NSU-Untersuchungsausschuss wenig überraschend keine gewinnbringenden Erkenntnisse beizusteuern — ein klares Bild von der nordhessischen Naziszene und der von ihr ausgehenden Gefahr. Joachim Tornau, der als freier Journalist arbeitet und bereits im NSU-Untersuchungsausschuss als Sachverständiger gehört wurde, erörterte die Szene und ihre Organisationen. Der Soziologe Matthias Quendt beschrieb die Rolle der rassistischen Mobilisierung in der Ideologie der extremen Rechten und beleuchtete die Rolle der AfD darin. Kirsten Neumann vom Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus und Rassismus aus Kassel stellte insbesondere die Auswirkungen für Betroffene ins Zentrum und betonte den Stellenwert deren Wissens. Sie beschrieb, wie Kirmesfeiern in Nordhessen zu No-Go-Areas für all diejenigen wurden, die ins Feindbild von Neonazis passten, und berichtete von möglicherweise extrem rechten Mordversuchen, bei denen die Ermittlungen nicht oder nur schleppend verliefen. So wurde im Jahr 2001 auf die Bewohner_innen des Wagenplatzes am Hafen und im Jahr 2003 auf einen bekannten Antifaschisten geschossen. (siehe hierzu www.nsu-watch.info/2020/06blickpunkt-kassel-alte-faelle-neue-fragen))

Diese Fälle sind besonders brisant vor dem Hintergrund des sogenannten „Geheimberichts“. Das Dokument, das viel Aufmerksamkeit bekam, weil es ursprünglich 120 Jahre als gesperrt eingestuft worden war, ist eine Zusammenfassung des Wissens des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz zu Verbindungen hessischer Neonazis zum NSU-Kerntrio. Dem Journalisten Martín Steinhagen wurde das Dokument zugespielt. Er beschreibt in seinem Buch „Rechter Terror: Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ (siehe LOTTA #83), dass der Inlandsgeheimdienst viele Informationen über Bewaffnung und Schießtrainings in der hessischen Neonazi-Szene hatte, denen aber nicht weiter nachgegangen worden sei. Auch habe es Quellenberichte über den Aufbau von Untergrundstrukturen gegeben. Klar ist, dass das Wissen um Schusswaffen in der Kasseler Szene vorhanden war, daraus aber keine Konsequenzen folgten. Ob sich der Ausschuss mit diesen Fällen beschäftigen will oder kann, steht und fällt mit der Frage, ob es einen Bezug zu Ernst oder H. gibt. Zumindest beim Fall des Wagenplatzes ist ein Ansatzpunkt gegeben: Markus H. lebte fußläufig zum Fuldaufer, von dem aus geschossen wurde.

Nichts aus dem NSU-UA gelernt

Doch es ist, als habe es die eindrücklichen Darstellungen und Analysen der Sachverständigen nicht gegeben. Bei der fünften Sitzung des Untersuchungsausschusses war ein ehemaliger Weggefährte Ernsts geladen. Alexander L. wurde 2005 dafür verurteilt, einen jungen Mann niedergestochen zu haben. Mit anderen Neonazis, darunter auch Ernst, hatte er 2003 beim Kasseler Stadtfest „Zissel“ junge Männer angegriffen, von denen einer eine Stichwunde erlitt. Er lebte damals mit Mike Sawallich und Michel F. in einer WG im Haus eines stadtbekannten Neonazis, dessen Tochter und Schwiegersohn ebenso zur rechten Szene gehörten. L. beschrieb sein damaliges Umfeld als unpolitisch sowie musik- und freizeitorientiert. Die Abgeordneten hinterfragten diese Darstellung ebensowenig wie das Verständnis von Politik, das der Darstellung des Zeugen zugrunde lag. Und sie verbanden das Gehörte auch nicht mit den Aussagen der Sachverständigen Neumann über das Bedrohungsszenario Kirmesveranstaltung. Wie auch im letzten Untersuchungsausschuss konnte die Darstellung der Kasseler Neonaziszene als Sauf- und Grillverein ungebrochen stehen bleiben, während gleichzeitig das Wissen um Bewaffnung und die Auswirkungen für die Betroffenen keinen Einfluss hatten. Der Ausschuss wird bestimmt von VS-„Wissen“ aus den Akten sowie den Darstellungen von Beamt_innen und Neonazis.

Kein Umfeld in Sicht

Fatal ist daher die Forderung, insbesondere seitens Teilen der linken Szene, mehr Neonazis aus dem Umfeld von Stephan Ernst vor den „UNA 20/1“ zu laden. Die Durchleuchtung des Umfeldes und potenzieller Mitwissender wäre Aufgabe der „SOKO Liemecke“ des hessischen LKA gewesen, die die Ermittlungen zum Lübcke-Mord führte. Hier hätte es die Möglichkeit gegeben, die Kasseler Neonazi-Szene auf den Kopf zu stellen, was eine deutliche Ansage gewesen wäre, dass der Mord Konsequenzen für die Szene hat. Derartige Ermittlungen blieben aus, Hausdurchsuchungen gab es außer bei den ursprünglich drei Beschuldigten Stephan Ernst, Markus H. und Elmar J. nur noch bei Alexander S. sowie bei Ernsts zwei Arbeitskollegen, die Waffen von ihm erworben hatten.

Der „UNA 20/1“ ist bei der Befragung von Neonazis ein zahnloser Tiger. Die Abgeordneten gehen ohne handfeste Belege für Kontakte und Szeneeinbindung in die Befragungen, ihnen stehen nur wenig Mittel zur Ahndung von Lügen zur Verfügung. Sie sind auch keine geschulten Befrager_innen und arbeiten eher gegen- als miteinander. All dies sind keine Voraussetzungen, um gezielt nutzbares Wissen von neonazistischen Zeug_innen zu bekommen. Die Forderung nach Ladung weiterer Neonazis zeigt, dass Zielsetzung und Reichweite des Ausschusses nicht begriffen wurden. Der Ausschuss wird in dieser Zusammensetzung und mit seinem Arbeitsauftrag nicht nachholen können, was die Ermittlungen versäumt haben. Sinnvoller für die Beantwortung der Fragen, die die Öffentlichkeit beschäftigen, wäre die Forderung nach einem umfassenderen Untersuchungsausschuss zu extrem rechten Terrorstrukturen in Hessen sowie die Forderung, den Betroffenen rechter Gewalt zuzuhören und Umstände zu schaffen, unter denen sie von ihrem Erleben berichten können.

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Foto des Tatort-Hauses