Scheitern nicht ausgeschlossen
Die AfD vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
Die Inszenierung hätte so schön sein können. Mit klarer Mehrheit wählte Anfang Februar 2022 ein Parteitag in Siegen Martin Vincentz zum AfD-Landeschef in NRW. Nach dem ersten Parteichef Alexander Dilger, der noch im Übermaß das Flair der neoliberalen „Professorenpartei“ verströmt hatte, nach dem halbseiden wirkenden Marcus Pretzell, nach dem dauermonologisierenden Martin Renner, nach dem verkrachten Führungsduo Helmut Seifen/Thomas Röckemann und nach dem sich chronisch überschätzenden Rüdiger Lucassen schien endlich ein neuer Vorsitzender ohne all die Makel seiner Vorgänger gefunden zu sein. 63 Prozent stimmten für den 35-jährigen Arzt vom Niederrhein, 31 Prozent für seinen Gegenkandidaten — für AfD-Verhältnisse ein deutliches Ergebnis. Martin Vincentz‘ Aufstieg an die Spitze seiner Partei hatte seine Zeit gebraucht. Lange interessierte „sein“ Thema, die Gesundheitspolitik, kaum jemanden in der AfD. Doch Corona spülte ihn nach oben. Es war sein Thema im Landtag in den letzten zwei Jahren. Schon als die NRW-AfD im vorigen Oktober ihre Kandidaten für die Landtagswahl bestimmte, war er dafür belohnt worden. Mit ganz und gar untypischen 96 Prozent wählten ihn die Delegierten auf Listenplatz zwei, gleich hinter Fraktionschef Markus Wagner. Die NRW-AfD — jahrelang durch Fehden und Intrigen gebeutelt, mal ideologisch begründet, mal durch schlichte Karriereambitionen motiviert — hatte einen neuen Hoffnungsträger gefunden. Einen, der nicht durch Poltereien abschreckt, einen, der west-wähler:innen-kompatibel wirken und für so etwas wie eine Verjüngung stehen soll.
Kurze Eintracht
So schön hätte die Inszenierung sein können. Doch die NRW-AfD wäre nicht die NRW-AfD, wenn die neue Eintracht lange währen würde. Zwei Beispiele aus der Provinz: Wenige Wochen nach jenem Landesparteitag, der Vincentz an die Spitze der Partei wählte, kamen rund 90 Delegierte aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in Letmathe zu ihrem längst überfälligen Bezirksparteitag zusammen. Sie bauten ihren Vorstand gründlichst um. Von den zwölf Mitgliedern, die 2019 gewählt worden waren, zog nur noch einer in das neue Gremium ein. Der Dortmunder Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich (siehe auch S. 22 f.), der selbst den Rechtstrend des Landesverbandes vorantreibt, ohne aber zu den „Flügel“-Kräften zu zählen, jubelte: „Die Zeit der alten Meuthen-Seilschaft ist in unserem Bezirk überwunden.“ Helferich hatte auch einen ganz persönlichen Grund zur Freude: Gerade erst hatte Vincentz‘ neuer Landesvorstand sich per förmlichem Beschluss hinter die Forderung gestellt, Helferich mit einer Ämtersperre zu belegen, weil er sich in einem Chat unter anderem als „das freundliche gesicht des ns“ bezeichnet hatte.
Aber statt dieses Votum zu respektieren, wählte ihn die AfD aus dem Regierungsbezirk auf Platz 1 ihrer Delegierten für den Bundesparteitag. An der Spitze des Bezirksvorstands steht nun Christian Zaum, der den AfD-„Gemäßigten“ Peter Bohnhof ablöst. Zaum ist Lehrer für Deutsch und Geschichte, Fraktionsvorsitzender im Kreistag von Siegen-Wittgenstein und stellvertretender Sprecher des dortigen Kreisverbands. Dieser Kreisverband, Beispiel zwei, steht geradezu idealtypisch für die Zerrissenheit des gesamten Landesverbands. Einer aus der Riege der AfD-„Gemäßigten“ sagt über dessen Vorstand, „Inkompetenz und Flügelgehorsam“ würden ihn auszeichnen. Während Parteichef Roland Steffe in der Kreistagsfraktion sogar noch die Geschäfte führen darf, gehört er der von fünf auf drei Mitglieder geschrumpften Stadtratsfraktion in Siegen gar nicht mehr an. Dort haben die angeblich „Gemäßigten“ das Sagen, an der Spitze Michael M. Schwarzer, der zugleich Pressesprecher der AfD-Landtagsfraktion ist. Schwarzer ist meist mit von der Partie, wenn in der Landes-AfD Strippen gezogen werden. So war es schon, als Marcus Pretzell in NRW Regie führte — so ist es noch heute. Er stehe „für den bürgerlichen Kern der Partei“, beeilte sich seine Ratsfraktion zu betonen, nachdem Schwarzer an deren Spitze gewählt worden war. Siegen-Wittgensteins AfD: Das sind zwei Parteien unter einem Dach.
Nur das Label vereint
Landesweit sind es sogar mehr als zwei Parteien, die das Label AfD — und nicht viel mehr — vereint und die in wechselnden Konstellationen um die Macht ringen. Da gibt es die Gruppe, die sich seit Jahren um ein moderateres Erscheinungsbild bemüht. Schwarzer und der Bochumer Kreisvorsitzende Markus Scheer stehen dafür. Beide eint, dass ihre Chancen für persönliche Karrieren in der Partei denkbar gering sind: bei Scheer, weil er einst wegen Bilanzfälschung, Kreditbetrug und Untreue zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt wurde und daher als wenig präsentabel gilt, bei Schwarzer, weil er einmal bei einer Kandidatenvorstellung seine frühere Mitgliedschaft bei den „Grünen“ zu erwähnen „vergaß“ — ein K.O.-Kriterium bei der AfD.
Auf der anderen Seite existieren nach wie vor die alten Netzwerke des „Flügels“ in NRW. Mit Thomas Röckemann und Christian Blex stellt er aktuell zwei Landtagsmitglieder. Sie machen sich Hoffnung, auch ins neue Landesparlament einziehen zu können. Blex steht auf Platz 5 der Landesliste, Röckemann auf Platz 13. Zumindest phasenweise konnte ein drittes Lager in den letzten zwei Jahren eine Mehrheit hinter sich wissen. Den Kern bildeten Ex-Landeschef Rüdiger Lucassen und sein Stellvertreter Helferich. Dabei versuchte Ex-Bundeswehroberst Lucassen den „seriösen“ Part zu geben, während Helferich sich um die „neurechte“ Durchdringung der AfD bemühte.
Rund um die größeren Gruppen kreisen einige Solitäre. Renner, der selten zu erwähnen vergisst, dass er Anfang 2013 einer der Mitbegründer der AfD war, ihren Namen kreierte und das Logo entwarf, gehört dazu. In den Vordergrund gedrängt hat sich auch der Siegener Unternehmer Henning Zoz, der sich um jedes erreichbare oder nicht erreichbare Amt zu bemühen scheint. Feste Gruppen formieren sich nicht hinter beiden. Was freilich nicht ausschließt, dass sie bei Parteitagen erstaunlich gute Ergebnisse erzielen. Zoz zum Beispiel: Als die AfD ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl bestimmte, votierte mehr als ein Drittel der Delegierten für das landespolitisch gänzlich unerfahrene Kuratoriumsmitglied der Desiderius-Erasmus-Stiftung. Parteiintern hatte er sich einen Namen gemacht, weil er in Zeiten der Maskenpflicht bevorzugt mit Darth-Vader-Maske unterwegs war. Einige in der Partei, die sich um bürgerliche Reputierlichkeit sorgten, schauten betreten weg; andere bewunderten seinen „Mut“. Jedenfalls sorgten Letztere bei der Kür des Spitzenkandidaten mit ihrem Votum für Zoz dafür, dass der bisherige Fraktionsvorsitzende Markus Wagner nur mit mageren 52 Prozent auf Listenplatz eins gesetzt — und damit eher abgestraft wurde.
Blasse Fraktion
Dabei hat die AfD Wagner, 2004 bis 2006 Vorsitzender der Offensive D, der früheren Schill-Partei, eigentlich viel zu verdanken. Mit wenigen Ausnahmen verhinderte er in den Jahren seit 2017, dass der Streit in der Partei öffentlich erkennbar auf die Fraktion übergriff. Und zugleich sorgte er dafür, dass das interne Murren über Abgeordnete, denen Urlaubsreisen oder Auftritte bei Demonstrationen wichtiger waren als die Arbeit im Parlament, nicht zu sehr nach draußen drang. Während sich AfD-Fraktionen in Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Bremen zerlegten, hielt der Laden in Düsseldorf zusammen. Selbstverständlich war das nicht. Denn die Fliehkräfte waren enorm. Auf der einen Seite die große Mehrheit der Anhänger von Jörg Meuthen, unter anderem Ex-Landeschef Helmut Seifen und Vincentz. Auf der anderen Seite Blex/Röckemann. In der Fraktion hatte das „Flügel“-Duo wenig zu melden — in der Partei dafür deutlich mehr: Immerhin verhinderten sie so, dass die Fraktion vor fünf Jahren für Armin Laschet als Ministerpräsident stimmte, wie die Riege um Pretzell das eigentlich im Sinn gehabt hatte.
Auch wenn die Fraktion nach dem Abgang von Pretzell und Co. unbeschädigt blieb, gelang es ihr kaum einmal, mit eigenen Vorstößen in die Schlagzeilen zu kommen. Stattdessen fiel sie durch Missgeschicke, Polit-Inszenierungen und den Versuch der Selbstverharmlosung öffentlich auf: sei es bei der Laschet-Wahl 2017, bei einem angeblichen Bergarbeiterprotest im Parlament 2019 oder 2020 mit der Herausgabe eines rassistischen Malbuchs, das dann nach massiver Kritik wieder zurückgezogen werden musste.
Im Umfrageloch
Umfragen sehen die NRW-AfD bei Redaktionsschluss dieser LOTTA-Ausgabe zwischen sechs und acht Prozent. Doch ausgeschlossen ist es nicht, dass ihre Zeit im Landtag nach fünf Jahren schon wieder zu Ende geht. Die Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts, das dem Verfassungsschutz die Einstufung der Partei als „Verdachtsfall“ für extremistische Bestrebungen genehmigte, kann auch Wähler:innen abschrecken. Weitere Faktoren kommen hinzu. Etwa der Trend des vorigen Jahres, als die AfD in zwei anderen westdeutschen Flächenländern, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, mehr als ein Drittel ihrer Stimmen verlor. Oder die Pleite bei der NRW-Kommunalwahl vom September 2020, als die Funktionär:innen von einem zweistelligen Ergebnis träumten, die AfD am Ende aber nur mit Mühe über fünf Prozent kam. Und da ist die doppelte parteipolitische Konkurrenz, die in diesem Jahr in der potenziellen AfD-Klientel wildern könnte: auf der einen Seite die Freien Wähler, die um ein rechts-„bürgerliches“ Publikum buhlen, auf der anderen Seite dieBasis, die konsequenter noch als die AfD Corona-Leugner:innen anspricht.
Und schließlich dürften auch die AfD- Ergebnisse aus zwei anderen Bundesländern nicht ohne Einfluss auf NRW bleiben. Im Saarland, wo die AfD nicht einmal in der Lage war, eine Landesliste aufzustellen, kam sie nur noch auf 5,7 Prozent. Schleswig-Holstein, wo die AfD noch schwächer dasteht als in NRW, stimmt eine Woche vor den Wahlberechtigten an Rhein und Ruhr ab. Ein Landtag ohne AfD: Möglich wäre das.
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Die AfD tritt am 15. Mai 2022 mit einer 23-köpfigen Landesliste an. Auf Wagner und Vincentz folgen auf den nächsten vier Plätzen weitere Politiker, die derzeit bereits dem Landtag angehören. Insgesamt kandidieren neun der aktuell 13 AfD-Abgeordneten erneut. Erste von nur zwei Frauen auf der Liste ist Enxhi Seli-Zacharias auf Platz sieben. Die Liste im Überblick:
Markus Wagner (Minden-Lübbecke) Martin Vincentz (Krefeld) Andreas Keith (Leverkusen) Christian Loose (Bochum) Christian Blex (Warendorf) Sven Tritschler (Köln) Enxhi Seli-Zacharias (Gelsenkirchen) Carlo Clemens (Rheinisch-Bergischer Kreis) Hartmut Beucker (Wuppertal) Klaus Esser (Düren) Daniel Zerbin (Recklinghausen) Zacharias Schalley (Rhein-Kreis Neuss) Thomas Röckemann (Minden-Lübbecke) Helmut Seifen (Borken) Iris Dworeck-Danielowski (Köln) Christian Zaum (Siegen-Wittgenstein) Alexander Schaary (Duisburg) Udo Pauen (Bottrop) Bernd Rummler (Oberbergischer Kreis) Ulrich von Zons (Soest) Jürgen Antoni (Hochsauerlandkreis) Maxim Dyck (Gütersloh) Dietmar Gedig (Solingen)