Der Geheimdienst als Meinungsmacher

Der „NSU-Geheimbericht“ und die „Verfassungsschutzberichte“

Der geleakte „NSU-Geheimbericht“ offenbart nicht nur die desaströse Arbeitsweise und Inkompetenz des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Das Dokument verdeutlicht wie die jährlichen „Verfassungsschutz­berichte“ auch, wie Geheimdienst-Behörden in ihren Veröffentlichungen die Realität verzerren.

Am 28. Oktober 2022 stellte die Initiative FragDenStaat den sogenannten „NSU-Geheimbericht“ ins Netz. Am selben Tag machte Jan Böhmermann diesen zum Thema seiner Fernsehsendung ZDF Magazin Royale, und wenig später legte die antifaschistische Rechercheplattform Exif eine ausführliche Analyse des Berichtes nach („Der NSU-Geheimbericht: Zeugnis eines Desasters“). Das Dokument war ursprünglich mit einer Sperrfrist von 120 Jahren versehen worden. Jedoch finden sich darin keinerlei Informationen, die eine derart lange Sperrfrist rechtfertigen würden. So sind sich die an der Veröffentlichung beteiligten Initiativen einig in der Bewertung, dass mit der Sperrfrist vor allem die Unfähigkeit des hessischen Inlandsgeheimdiensten vertuscht werden sollte.

Symbol des Verschweigens und Vertuschens

Nach der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) im November 2011 stellte sich schnell heraus, dass die Inlandsgeheimdienste ein dichtes Netz von Informant*innen um die Kerngruppe des NSU — das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt — gelegt hatten. Dennoch waren sie nicht willens oder in der Lage gewesen, die Verbrechen des NSU zu verhindern. Zum Zeitpunkt des NSU-Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 war sogar ein Mitarbeiter des hessischen Inlandsgeheimdienstes in Kassel am Tatort gewesen. Nachdem dies bekannt geworden war, sah sich der damalige hessische Innenminister Boris Rhein zum Handeln genötigt. Er wies seine Geheimdienst-Behörde an, ihre Akten auf Hinweise zum NSU und zu rechtsterroristischen Aktivitäten im Land Hessen zu prüfen. So durchsuchten 27 Mitarbeitende über mehrere Monate nach eigenen Angaben 3.500 Aktenbände. Heraus kam der Bericht, der nun geleakt wurde. Diesem angefügt ist eine Tabelle mit 950 Meldungen, die als relevant befunden worden waren. Darin sind viele Informationen geschwärzt.

Die Öffentlichkeit hätte ursprünglich nicht einmal erfahren sollen, dass dieser „Geheimbericht“ überhaupt existiert. So wurde dieser zum Synonym für „die NSU-Akten“ und — wie Exif schreibt — „zum Symbol dafür, wie der deutsche Staat mit Betroffenen des Neonaziterrors umgeht. Er steht für das Schweigen ignoranter Behörden, die permanent verharmlosen, vertuschen und teils selbst verstrickt sind in den rechten Terror in Deutschland. Es geht längst darum, was der Bericht heute verkörpert, nicht um seinen konkreten Inhalt.“

Die desaströse Arbeitsweise des Geheimdienstes

Die umfangreichen Schwärzungen werden damit begründet, dass durch den Bericht Quellen gefährdet seien und die Arbeitsweise des Geheimdiensten offengelegt würde. Diese Argumente sind zunächst einmal nachvollziehbar, denn keine Sicherheitsbehörde macht von sich aus öffentlich, wie sie konkret arbeitet, wie ihr genauer Wissensstand ist und aus welchen Quellen sie schöpft. Außerdem wurde V-Personen zugesichert, dass ihre Identität geschützt wird. Nicht in diesem Sinne nachvollziehbar ist, warum Informationen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits öffentlich bekannt waren, dort nicht zu lesen sind. Beispielsweise Erkenntnisse aus offen einsehbaren Profilen in Sozialen Netzwerken oder öffentlich zugänglichen Publikationen. Dadurch wären weder Arbeitsweisen verraten noch Spitzel gefährdet worden. Diese Kernarbeit wurde von der Behörde offensichtlich nicht geleistet.

Bei der Durchsicht des Berichts stößt man immer wieder auf das Kernproblem der Arbeitsweise des Inlandsgeheimdienstes: Er baut sein Wissen im Wesentlichen auf Aussagen bezahlter Spitzel auf. So finden sich zahlreiche Meldungen über Schießtrainings, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung und auch Bezüge ins Netzwerk des NSU. Doch kaum einer dieser Meldungen wurde nachgegangen. Auch sind im Bericht viele Fälle nicht aufgeführt, in denen sich Neonazis auf legalem Weg Schusswaffen beschafften und an diesen ausbildeten. Das lässt den Schluss zu, dass die Zugehörigkeit von Neonazis zu Schützenvereinen, Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften entweder nicht systematisch untersucht wurde oder dass diesbezügliche Informationen geschwärzt wurden, obgleich sie in der Regel durch einfache Social-Network- und Internet-Recherchen in Erfahrung zu bringen sind. Auch war dem hessischen Inlandsgeheimdienst eine Liste von 77 Neonazis vorlegt worden, die gesondert überprüft werden sollten. Über die Organisationen und Netzwerke, denen sie angehörten, liest man jedoch kaum etwas, sie wurden offensichtlich für nicht relevant befunden. Maßgebliche Personen und Strukturen des militanten Neonazismus werden in dem Bericht allenfalls angerissen. Selbst bei Personen und Gruppen, die im NSU-Komplex eine Rolle spielen, hat man deren Brisanz nicht erkannt und keine Untersuchungen angestellt. Die enge Verflechtung von Thorsten Heise mit den führenden Köpfen einer „Untergrundorganisation Nordhessen“, die sich um das Jahr 2000 Schusswaffen beschafften und „illegale Aktionen durchführen“ sollten, wird nicht benannt. Dabei führen von Heise und einer Exponentin dieser „Untergrundorganisation“ direkte Links in den Kreis derer, die die Kerngruppe des NSU unterstützen. Gänzlich unerwähnt sind die engen Verbindungen, die die Blood & Honour Sektion Südhessen zur Blood & Honour-Gruppe in Chemnitz unterhielt, just im Zeitraum 1998 bis 2000, als die Chemnitzer B&H-Leute die untergetauchten Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Chemnitz versteckten und tatkräftig unterstützten. Exif fasst zusammen: „Den Mitarbeitenden [des Inlandsgeheimdienstes, d.A.] fehlt offensichtlich die Kompetenz, die Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, rechten Terror zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen.“

Verharmlosung neonazistischer Strukturen

Über den „Geheimbericht“ lässt sich einmal mehr nachvollziehen, wie der Inlandsgeheimdienst seit Jahren verzerrte Bilder über die extreme Rechte zeichnet und damit Politik und Meinung macht. So finden sich in der dem Bericht angefügten Tabelle trotz der Schwärzungen viele Meldungen von Waffenbeschaffungen, Bombenbau und paramilitärischen Trainings von Neonazis, die bislang nicht bekannt waren. Der Inlandsgeheimdienst schreibt dazu: „Der größte Teil dieser Belege mit Bezug zu szenetypischen Aktivitäten beinhalteten Hinweise auf einen legalen oder illegalen Waffen- oder Sprengstoffbesitz von Rechtsextremisten (etwa 40% der Belege); Information zu einem gewaltorientierten Verhalten dieser Personen fanden sich parallel dazu nicht.“ Fragt sich, wann sich nach Ansicht der Behörde ein „gewaltorientiertes Verhalten“ von Neonazis erkennen lässt, wenn schon nicht in der Beschaffung von Waffen und Sprengstoff.

Wenn man Meldungen der Tabelle mit Veröffentlichungen des Inlandsgeheimdienstes abgleicht, wird deutlich, wie militante Rechte verharmlost werden. So ist im hessischen „Verfassungsschutzbericht“ für das Jahr 2003 über die Neonazi-Kameradschaft Großoffensive Südhessen folgendes zu lesen: „Für die Öffentlichkeit bemerkbar betätigte sich die Großoffensive Südhessen lediglich mit ihrer Homepage im Internet. In einer Selbstdarstellung hieß es, das >Projekt Großoffensive Südhessen< sei als Versuch entstanden, die Bewegung in Südhessen unter einer Kameradschaft zu vereinigen. In Deutschland existierten unzählige Kameradschaften, deren Zweck es sei, regional zu agieren. Bisher sei es aber noch keinem gelungen, diese einzelnen Kameradschaften zu vereinigen. Das sollte mit diesem ‚Projekt‘ geändert werden.“ Diese Darstellung lässt glauben, dass diese Gruppe nichts anderes im Sinn gehabt und auf die Reihe bekommen habe, als eine Homepage einzurichten, auf der sie von der Schaffung einer neonazistischen Sammelbewegung fantasierte. Aus Meldungen der Tabelle des „Geheimberichts“ erfährt man nun erstmals, dass die Großoffensive Südhessen im Jahr 2003 eine Wehrsportgruppe aufgebaut und sich für „Gelände- und Gefechtsübungen“ ausgerüstet hatte. In anderen Bundesländern ist ähnliches zu beobachten. So wies Die Linke im Thüringer Landtag darauf hin, dass der aktuelle „Verfassungsschutzbericht“ des Bundeslandes kaum über militante Neonazi-Strukturen wie Combat 18 oder Arische Bruderschaft informiert. Während der Geheimdienst sieben „links motivierte“ Straftaten auf Polizist*innen in den Fokus nimmt, geht er zudem mit keinem Wort darauf ein, dass Polizist*innen in Thüringen von Teilnehmenden der „Corona-Proteste“ teils heftig angegriffen wurden. Darüber, so schreibt Die Linke, „manifestiert der Verfassungsschutz das Feindbild links für und in Sicherheitsbehörden und verzerrt zudem massiv die Realität zugunsten rechts“.

Antifaschistische Recherche im Visier

Artikel auf der Plattform Exif zeigten 2018 und 2021 auf, wie die deutschen Geheimdienste das Treiben der internationalen und terroristisch ambitionierten Netzwerke von Combat 18 und Hammerskins seit Jahren klein reden und schreiben. Im Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2021 ließ der Inlandsgeheimdienst die Hammerskins, deren Treiben 2021 großes mediales Thema gewesen war, demonstrativ unerwähnt. Stattdessen widmete er sich ausführlich „Antifa-Recherchegruppen und Antifa-Netzwerken“. Dort heißt es: „Als Anknüpfungspunkt für militante Aktionen und Veröffentlichungen dienen meist die Erkenntnisse von ‚Antifa-Recherchegruppen‘, deren Aktivitäten auf eine möglichst flächendeckende Aufklärung der Strukturen des politischen Gegners ausgerichtet sind. […] Einzelne Gruppen professionalisieren diese Informationsbeschafffung und führen verdeckte Recherchen durch. Sie fertigen Bildmaterial von rechtsextremistischen Veranstaltungen an, um diese mit früheren Aufnahmen abzugleichen und so Personen und Verbindungen aufzuklären. Zu diesem Zweck sind Recherchegruppen überregional miteinander vernetzt. Vereinzelt bestehen auch Kontakte in Verwaltungsstrukturen, über die rechtswidrig Personendaten oder vertrauliche Informationen erlangt werden können. Neben dem Ziel der Veröffentlichung können solche Rechercheberichte auch Anknüpfungspunkt für die Zielauswahl militanter Aktionen gewaltbereiter Kleingruppen sein. Personen, die auf diese Weise als relevante Akteure in den Strukturen des politischen Gegners identifiziert wurden, werden immer wieder zum Ziel von Straf- und Gewalttaten […].“

Die Inlandsgeheimdienste sind erbost darüber, von linken antifaschistischen Medien ein ums andere Mal der Lügen, Vertuschungen und Inkompetenz überführt und in der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden. Allzu offensichtlich ist nun ihr Bemühen, linke Recherchestrukturen zu verleumden und zu kriminalisieren, die als Konkurrenz im Kampf um die Meinungshoheit zum Thema „extreme Rechte“ angesehen werden. So verfolgt der Geheimdienst unbeirrt seine eigene politische Agenda. Für ihn steht der Feind dort, wo er schon immer stand: links.

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