Die „Schwedendemokraten“

Profiteure massiver Veränderungen

Innere Sicherheit und Phantasien von „Überfremdung“ und „Bevölkerungsaustausch“ sind für rechte Parteien zentrale Themen. In Schweden ist Schusswaffengewalt im öffentlichen Raum zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem geworden. Auch der demographische Wandel ist sichtbar und fällt oft mit Spaltungen bezüglich ökonomischer Situation, Bildungsgrad und Wohnort zusammen. Die Situation ist komplex, und die sozialdemokratisch geprägten Regierungen der letzten Jahre haben es versäumt, umfassend einzugreifen. Das Ergebnis ist dramatisch und hat den Erfolg der rechten „Sverigedemokraterna“ wesentlich mitbestimmt.

Innere Sicherheit und Phantasien von „Überfremdung“ und „Bevölkerungsaustausch“ sind für rechte Parteien zentrale Themen. In Schweden ist Schusswaffengewalt im öffentlichen Raum zu einem ernsthaften gesellschaftlichen Problem geworden. Auch der demographische Wandel ist sichtbar und fällt oft mit Spaltungen bezüglich ökonomischer Situation, Bildungsgrad und Wohnort zusammen. Die Situation ist komplex, und die sozialdemokratisch geprägten Regierungen der letzten Jahre haben es versäumt, umfassend einzugreifen. Das Ergebnis ist dramatisch und hat den Erfolg der rechten „Sverigedemokraterna“ wesentlich mitbestimmt.

Bis Mitte Dezember hatte es im gesamten Land 378 Schießereien gegeben, 104 Personen wurden dabei verletzt und 60 getötet. Die Zahlen steigen seit etwa 2013 kontinuierlich an. In acht von zehn Fällen handelt es sich bei diesen Gewaltakten um Taten innerhalb eines gangkriminellen Milieus. Täter und Opfer sind meist junge Männer, aber auch einige Kinder und sehr junge Frauen wurden getötet, einige Täter waren unter 18 Jahren. In einigen Fällen wurden Unbeteiligte Opfer von sogenannten drive-by shootings, in anderen töteten Sprengsätze Kinder und andere Familienangehörige anstelle der eigentlichen Ziele.

2021 waren 20 % der Bevölkerung Schwedens nicht im Land geboren, weitere 13 % hatten mindestens einen ausländischen Elternteil. Im Jahr 2010 gab es nur 11,3 % im Ausland Geborene. Das Land hat sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten von einem der ethnisch homogensten in Europa zu einem der sieben diversesten der Welt entwickelt. In den vergangenen fünf Jahren rutschte Schweden vom ersten Platz bezüglich der Bekämpfung ökonomischer Ungleichheit auf Platz 20 europaweit. Insgesamt ist die ökonomische Spaltung seit 1980 immer weiter gestiegen, wenn auch vor dem Hintergrund gleichzeitiger allgemeiner Steigerung des Lebensstandards.

Segregation statt Integration

Gewaltkriminalität, Immigration, soziale Ungleichheit markieren beispielhaft die massiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Zahlen zu Bildungschancen, Arbeitslosigkeit und Segregation in urbanen Räumen bestätigen ebenfalls, dass Schweden sich in kurzer Zeit von einem relativ homogenen, ökonomisch und sozial um Umverteilung bemühten Land hin zu einer von starker Polarisierung, Heterogenität und Spaltung geprägten Gesellschaft entwickelt hat. Der kontinuierliche Aufstieg der Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD) lässt sich allerdings nicht allein durch diese Veränderungen erklären, sie bilden aber einen wichtigen Hintergrund. Die Partei, die sich selbst als nationalkonservativ bezeichnet, aber in vielen personellen und inhaltlichen Aspekten der extremen Rechten nahesteht, kam 2010 erstmals über die Vier-Prozent-Sperre und ins Parlament. 2014 wurde sie drittstärkste Partei mit 12,8 %; 2018 erreichte sie 17,5 % und im Herbst 2022 20,5 %. Die Wahlergebnisse bei Europa- und Kommunalwahlen sind deutlich schlechter, stiegen aber im selben Zeitraum auch linear an.

Der cordon sanitaire und sein Ende

Auch im politischen System hat Schweden mit dieser Wahl eine starke Veränderung erlebt: das Ende der Blockpolitik: Sozialdemokraten, Linkspartei und Grüne auf der einen Seite, Moderaterna (konservativ-wirtschaftsliberal), Centerpartiet (konservativ-werteliberal-ländliche Regionen), Kristdemokraterna (konservativ) und Liberalerna (liberal) auf der anderen. SD stand außerhalb der Blöcke, bis 2019 Moderaterna die Möglichkeit eröffneten, mit SD zusammenzuarbeiten. Centerpartiet schloss dies kategorisch aus. Damit war der bürgerlich-liberale Allianz-Block aufgelöst. Die strikte cordon-sanitaire-Politik aller Parteien angesichts der quantitativ immer stärkeren Repräsentation von SD war nicht länger aufrechtzuerhalten. 2018 konnten sich noch alle Parteien auf das sogenannte Januarabkommen einigen, um den Einfluss von SD zu beschränken. Die rot-grüne Regierung einigte sich mit der Allianz auf eine sachpolitische Linie, anstatt einen konservativen Block mit Unterstützung von SD zu ermöglichen. Dies führte dazu, dass in nahezu allen Bereichen Rot-Grün eine liberale oder konservative Politik umsetzen musste. Gleichzeitig deuteten sich erste Spaltungslinien im ebenfalls unzufriedenen Allianz-Block an.

Der kontinuierliche Anstieg an Wä­hl­er:innenzuspruch für SD scheint relativ unabhängig vom Handeln der anderen Parteien zu sein. Dagegen hat die Frage, wie mit SD umzugehen sei, zu ernsthaften Verwerfungen innerhalb der Allianzparteien geführt, zumal es eher um moralische als um inhaltliche Kritik ging. Noch 2018 hatte Ulf Kristersson, Parteivorsitzender der Moderaterna, der Holocaust-Überlebenden Hédi Fried versprochen, eine deutliche rote Linie gegenüber SD einzuhalten. Als er 2021, nach der Auflösung der Allianz, seine Haltung änderte, wurde „du hattest es Hédi versprochen“ zum Schlagwort. Sicher ist es moralisch verkehrt, ein Versprechen gegenüber einer politisch höchst aktiven Antifaschistin zu brechen, politisch gesehen aber wäre es wichtig gewesen, die inhaltliche Nähe der Partei Moderaterna zu SD zu kritisieren: etwa die klimafeindliche Energiepolitik oder die platte Kopplung von Migration und Kriminalität. Oder auch zu beleuchten, inwieweit sich die Rahmenbedingungen von 2018 bis 2022 geändert haben, nachdem die konsequente Ausgrenzung von SD zu einer politisch höchst instabilen Lage geführt hatte.

Die nun gewählte bürgerliche Mitte-Regierung wählt einen Schlingerkurs: SD sind nicht Teil der Regierungskoalition und haben entsprechend keine Ministerien — dafür aber den Vorsitz in mehreren der wichtigen Arbeitsausschüsse des Parlaments. Um deren Unterstützung der Minderheitsregierung zu sichern, einigten sich die Koalitionsparteien mit SD vor der Regierungsbildung im sogenannten Tidö-Abkommen auf eine gemeinsame Linie. In dieser sind vor allem in den Bereichen Migration und innere Sicherheit nahezu 100 Prozent der SD-Wahlversprechen umgesetzt worden. Die Koalitionsparteien behaupten noch immer, nicht mit SD zu regieren — und SD hat zentrale politische Punkte gesetzt, ohne für deren Umsetzung politisch verantwortlich sein zu müssen.

Stigmatisierung und Anpassung

Einige Einschätzungen gehen davon aus, dass die Stigmatisierung der Partei eher geholfen hat, sich als politische Alternative in einer Situation zu präsentieren, in der sich alle anderen Parteien einander angenähert hatten. Andere heben die erfolgreiche „Ein-Fragen-Politik“ hervor, mit der sich SD zumindest bis 2014 als die einzige Partei präsentieren konnte, die Migration kritisch betrachtete — dies änderte sich aber 2015, als die rot-grüne Regierung die Migrationsgesetze drastisch verschärfte. Mittlerweile gehören Migration und Integration für alle Parteien zu den wichtigsten Fragen. Gleichzeitig hat SD einige ihrer zentralen Punkte aufgeweicht: Ein EU-Austritt wird nicht mehr konsequent verlangt, ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche soll gesetzlich verankert werden. Zu der historisch radikalen Entscheidung des NATO-Beitritts, die eine mehr als hundertjährige Tradition von Neutralität und Allianzfreiheit beendete, gab es überhaupt keine ernsthaften Gegenstimmen. Die nun aufgrund der türkischen Forderungen einsetzende Verfolgung kurdischer Geflüchteter und Aktivist:innen wird von allen Parteien außer der Linkspartei stillschweigend mitgetragen.

Dem rechten Markenkern treu

Ansonsten blieben SD sich seit 2010 weitestgehend treu. Es gab wiederholte Versuche, Personen auszuschließen, die in extrem rechten Organisationen aktiv waren oder in sozialen Medien offen rassistisch und antisemitisch pöbelten. Die selbst propagierte „Null-Toleranz-Politik gegen Rassismus“ muss aber immer wieder Ausnahmen zulassen, um die eigene Marke zu stärken. Mit wachsendem Erfolg scheint die postulierte eigene Grenze nach rechts auch immer unwichtiger zu werden. Im Wahlkampf machten SD großflächige Werbung für sich auf einem U-Bahn-Zug in Stockholm. Der SD-Sprecher in Rechtsfragen, Tobias Andersson, twitterte ein Foto davon mit dem Titel „Willkommen im Heimwanderungszug. Sie haben ein Einmal-Ticket. Nächster Stop Kabul.“ Auch hier viel moralische Empörung, wenig inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die anderen Parteien SD-ähnliche Positionen vertreten oder umsetzen. Die sozialdemokratische Regierung hatte Abschiebungen nach Afghanistan erst kurz nach der Machtübernahme der Taliban gestoppt, in den Jahren davor wurde aber eifrig abgeschoben, auch Jugendliche, die unbegleitet geflohen waren und einen Großteil ihrer Schulzeit in Schweden verbracht hatten.

Bis zur Wahl 2022 hatten SD eine recht klare demographisch, sozial und geographisch definierte Wählerbasis: lohnabhängig arbeitende Männer im Süden des Landes. Der Gender-Gap ist geblieben, aber in allen anderen Bereichen konnte SD die Basis verbreitern. Ein Unterschied zwischen SD und den meisten rechten Parteien in Europa ist, dass sie die soziale Frage nicht nur in populistischer Weise ausschlachten, sondern tatsächlich einige klassisch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat-Themen stark machen: Während der Pandemie wurde das Arbeitslosengeld erhöht, und SD deklarierten die Beibehaltung dieses Niveaus zu einem der Knackpunkte in den Regierungsverhandlungen 2022. Entsprechend gewannen SD auch in den Gewerkschaften und in den Teilen der Arbeiterklasse, die früher eng an die Sozialdemokratie gebunden waren, Anhänger:innen. Gleichzeitig gelang ihnen mit einer anti-urbanen Ausrichtung die Mobilisierung auch im Norden des Landes, traditionell sozialdemokratisch oder kommunistisch wählend. Wachsende Unzufriedenheit mit dem Abbau des Wohlfahrtsstaats, der sich seit den 1990er Jahren etwa in der Privatisierung des öffentlichen Sektors, vor allem von Schulen und im Gesundheitswesen, manifestiert, scheint neben Rassismus und EU-Skepsis eine der konstantesten politischen Haltungen zu sein, die SD-Wähler:innen auszeichnet. Ein zentrales ideologisches Anliegen von SD ist es, das „folkhemmet“, also den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre, wieder zu erschaffen und gleichzeitig die Sozialdemokratie für dessen Zerstörung anzuklagen.

Zurück in die 1950er

Alles in allem erscheint die derzeitige politische Konstellation, in der SD nicht nur mehrere wichtige Ausschüsse im Parlament leitet, sondern vor allem die Politik der Mitte-Koalition wesentlich bestimmt, ohne ihr anzugehören, das Resultat dreier Faktoren zu sein: der massiven demographischen und sozialen Veränderungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt hat; der Unfähigkeit der bisherigen Regierungen, sich mit den entsprechenden Herausforderungen auseinanderzusetzen, ohne Positionen von SD zu kopieren; und der Kontinuität, die SD in ihrer Politik vertritt. Kern dieser Politik ist Nostalgie: die Wiederauferstehung des „folkhemmet“ als einer ethnisch homogenen, sozial ausgeglichenen Gesellschaft, in der zentrale Entwicklungen der Globalisierung, Heterogenisierung und Modernisierung zurückgenommen werden. Die größtmögliche Wiederherstellung ethnischer Homogenität durch Ausbürgerung, Abschiebungen und die Verweigerung von unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen ist bereits in den Koalitionsvereinbarungen verankert. Dass sich damit auch die komplexe Problemlage auflöst, die die Schusswaffengewalt hervorgebracht hat, glaubt eigentlich niemand.