„Eine tickende Zeitbombe“
Der Vater des Hanau-Attentäters
Hans-Gerd R. lässt die Angehörigen und Freunde der Opfer der Anschläge in Hanau nicht zur Ruhe kommen. Er sucht sie in ihrem Alltag auf, beleidigt sie und baut Drohszenarien auf. Einen Strafprozess gegen ihn nutzte der 75-jährige Rentner als Bühne für sein rassistisches und von Verschwörungsmythen durchsetztes Weltbild. Die Betroffenen unterdessen fühlen sich bedroht.
In der Auseinandersetzung mit den Anschlägen vom 19. Februar 2020 wurde bereits thematisiert, dass Tobias R. in seinem Elternhaus — das ebenso wie die Wohnorte einiger Ermordeter im Hanauer Stadtteil Kesselstadt liegt — eine „rassistische Sozialisation“ erfuhr (vgl. LOTTA #78, S. 6 ff.). Zunächst war es seine Mutter Gabriele R., die er in der Tatnacht erschossen hatte, der hierbei eine tragende Rolle zugeschrieben wurde. Sie soll dem Sohn schon früh den Umgang mit „nichtdeutschen“ Kindern verboten haben. Doch der Vater Hans-Gerd R. steht ihr diesbezüglich in nichts nach. Bei einem Besuch im Bürgerbüro der Stadt Hanau verlangte er 2017 beispielsweise nach „deutschen“ Mitarbeiter*innen und fragte mit Blick auf die seiner Meinung nach „nichtdeutschen“ Angestellten zynisch, ob er hier bei der „Ausländerbehörde“ gelandet sei. Im gleichen Zeitraum beantragte er einen Schutzhund, um sich vor „nichtdeutschen“ Menschen zu schützen.
Beleidigungen
Nachdem Hans-Gerd R. Ende Dezember 2020 Teilnehmer*innen einer Kundgebung in Hanau-Kesselstadt — darunter mehrere Angehörige von Ermordeten — rassistisch beleidigt hatte, wurde er hierfür vom zuständigen Amtsgericht verurteilt. Mit in das Urteil floss ein, dass er die Polizeieinheiten, die in der Nacht der Anschläge das Haus seiner Familie stürmten, als „Terrorkommando“ bezeichnet und zudem dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky Wählertäuschung vorgeworfen hatte. Der Verurteilte ging in Berufung. Zum ersten Termin der Berufungsverhandlung musste er in Handschellen vorgeführt werden, nachdem er zuvor nicht erschienen war. Im Verfahren lehnte er den Pflichtverteidiger sowie die Richterin wegen angeblicher Befangenheit ab, den forensischen Sachverständigen, der die Schuldfähigkeit bewerten sollte, wollte er des Saals verweisen lassen. Im Folgenden setzte er mehrfach zu teilweise inhaltlich schwer verständlichen und teils rassistischen Monologen an und bekräftigte, dass er es als seine Aufgabe ansehe, das Anliegen seines Sohnes, eine Geheimorganisation aufzudecken, weiterzuführen. Letztendlich bestätigte das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts in den ersten beiden Punkten, nicht aber bezüglich der erhobenen Vorwürfe in Sachen Wählertäuschung durch den OB. Der Angeklagte wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 4.800 Euro verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte mehr als das Doppelte gefordert. Mittlerweile sollen sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Rechtsmittel eingelegt haben.
Anzeigen
In den Monaten nach den Anschlägen stellte Hans-Gerd R. mehrfach Anzeigen. Diese waren in ähnlich rassistischem und mit Verschwörungsmythen durchsetztem Ton verfasst, wie ihn bereits sein Sohn nutzte. Im Mai 2020 meldete sich eine Nichte von R. bei der Hanauer Polizei und gab an beunruhigt zu sein, da R. wirre Emails schreibe und dass „dieses auffällige Verhalten“ dem von Tobias R. ähnele. In seinen Anzeigen und Emails forderte R. unter anderem die Herausgabe der Waffen und Munition seines Sohnes. Zudem wollte er erreichen, dass die Webseite, auf der der Attentäter diverse Verschwörungserzählungen reproduziert sowie eine Videobotschaft und eine Art Manifest veröffentlicht hatte, wieder freigeschaltet wird. Tobias R. hatte den Vater in einer handschriftlichen Abschiedsnotiz gebeten, die „Webseite unter allen Umständen aufrecht“ zu halten. In weiteren Schreiben beklagte Hans-Gerd R., dass den Opfern — die er „Täter“ nannte — die Ehrenplakette der Stadt Hanau verliehen wurde. Er forderte, dass alle Gedenkorte wieder abzubauen seien, und sah bei der Trauerfeier am 4. März 2020 in Hanau zum Gedenken an die Opfer den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. In einem 2022 veröffentlichten Aufsatz attestiert der psychiatrische Gutachter Henning Saß R., „dass er sich nicht nur generell mit dem Sohn solidarisiert und ihn unterstützt, sondern auch inhaltlich einige von dessen Wahnthemen übernimmt“. Vater und Sohn eint zum Beispiel die Annahme, von einer Geheimorganisation verfolgt und überwacht zu werden. Hans-Gerd R. erklärt die Vorgänge am 19. Februar 2020 damit, dass sein Sohn diese Geheimorganisationen aufgedeckt habe und deshalb von diesen erschossen worden sei, während ein feindlicher „Agent“ — als sein Sohn verkleidet — die Anschläge verübte. In diesem Zusammenhang spricht er von „Mord“ an seinem Sohn und seiner Frau. Die Durchsuchungen in der Tatnacht seien Freiheitsberaubung und eine Verletzung der Menschenwürde gewesen. In einem Schreiben im Juni 2020 klagte er „hinsichtlich der Benachteiligung meiner Rasse, mithin des Deutschen Volkes“. Die Ermittlungen ergaben aber keine Hinweise auf eine mögliche Tatbeteiligung, und so wurden sie im Dezember 2021 eingestellt.
Drohszenarien
Hans-Gerd R. belässt es allerdings nicht dabei, Schreiben zu verschicken und Anzeigen zu stellen. Mehrfach suchte er das Haus von Serpil Temiz Unvar, Mutter des bei den Anschlägen ermordeten Ferhat Unvat, auf. So beispielsweise Anfang Mai 2022, als er mit seinem Schäferhund auftauchte, mehrfach auf die Klingel schaute und sie beobachtete. Nachdem sie schließlich das Fenster geöffnet hatte, fragte Hans-Gerd R. sie, wieso sie nach Deutschland gekommen sei, wie sie sich das Haus leisten könne und wo sie arbeite. Auf die Entgegnung, dass ihn das nichts anginge, antwortete er, er werde die Antworten auf seine Fragen schon alleine herauskriegen. Serpil Temiz Unvar erstattete Anzeige und erwirkte ein Annäherungsverbot. Gegenüber der Frankfurter Rundschau äußerte sie: „Sein Sohn hat meinen Sohn ermordet. Und dann geht der Vater zu meinem Haus, steht vor meinem Küchenfenster und macht mir Angst.“ Auch sorgt sie sich um die Sicherheit ihrer Kinder, zumal Hans-Gerd R. keine 100 Meter entfernt wohnt. Es folgten weitere Vorfälle im Umfeld der Betroffenenfamilien. Am 31. Oktober 2022 soll R. Jugendliche abgepasst haben, um diese mit seinem Hund einzuschüchtern. Mehrere Jugendliche aus Hanau-Kesselstadt berichteten auch, dass er sie mit seinem Hund verfolgt habe. Am 23. November 2022 suchte er die Heinrich-Heine-Schule in Hanau auf. Am Zaun der Grundschule sprach er Schüler*innen an. Als einer der Schüler ihn als den Vater des Attentäters erkannte und daraufhin beleidigte, drohte R., er käme zum Unterrichtsschluss wieder, und dann passiere etwas „Böses“. Einige Eltern machen sich nun Sorgen um die Sicherheit ihrer Kinder. Ein Vater äußerte sich wie folgt: „Wir schicken unsere Kinder vorerst nicht mehr in die Schule […] Er ist eine tickende Zeitbombe.“ Mittlerweile laufen in 21 Fällen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz, aus diesem Grund wurde R. auch am 28. Dezember 2022 kurzzeitig in Gewahrsam genommen.