Staatlich legitimierte Gewalt

Das fatale Urteil im „Fretterode-Prozess“

Am 15.09.2022 wurde der „Fretterode-Prozess“ am Landgericht Mühlhausen mit einem Urteil beendet, das zurecht von „taz“ bis FAZ als skandalös bezeichnet wurde. Das Gericht folgte in zentralen Punkten der Erzählung der Täter, verurteilte sie zu lächerlich geringen Strafen und machte die Betroffenen für den gewalttätigen Übergriff mitverantwortlich. Das Urteil ist ein fatales Signal an die Neonaziszene, die einmal mehr darin bestätigt wurde, dass sich in ihrem Raum nur aufhalten darf, wer von von ihnen geduldet wird. Missliebige Journalist\_innen können vertrieben und attackiert werden, ohne dass sich Polizei und Justiz in der Verantwortung sehen. Im Gegenteil, sie legitimieren die neonazistische Gewalt.

Am 15.09.2022 wurde der „Fretterode-Prozess“ am Landgericht Mühlhausen mit einem Urteil beendet, das zurecht von „taz“ bis FAZ als skandalös bezeichnet wurde. Das Gericht folgte in zentralen Punkten der Erzählung der Täter, verurteilte sie zu lächerlich geringen Strafen und machte die Betroffenen für den gewalttätigen Übergriff mitverantwortlich. Das Urteil ist ein fatales Signal an die Neonaziszene, die einmal mehr darin bestätigt wurde, dass sich in ihrem Raum nur aufhalten darf, wer von von ihnen geduldet wird. Missliebige Journalist_innen können vertrieben und attackiert werden, ohne dass sich Polizei und Justiz in der Verantwortung sehen. Im Gegenteil, sie legitimieren die neonazistische Gewalt.

Ein Jahr auf Bewährung und eine Geldstrafe für Gianluca Bruno, 200 Arbeitsstunden für Nordulf Heise wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung, so lautete die Strafe nach über einem Jahr Verhandlungsdauer im „Fretterode-Prozess“. Damit blieb das Gericht weit unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, die auch eine Verurteilung wegen schweren Raubes erwirken wollte. Die mündliche Urteilsbegründung machte klar, welch fatale politische Position das Gericht mit dem Urteil bezogen hatte.

Die Vorsitzende Richterin Andrea Kortus erklärte, dass das Gericht keinen Angriff auf die Pressefreiheit erkennen könne. Die Betroffenen seien allein an ihrer Kamera nicht als Journalisten erkennbar gewesen und der Angeklagte Heise habe sie schließlich gegenüber einem Zeugen als „Zecken“ bezeichnet. Es handele sich also eher, wenn auch nicht vorrangig, um eine Auseinandersetzung zweier politischer Lager, die weit auseinander lägen. Es sei im Prozess immer wieder Thema gewesen, dass die „Göttinger Antifa“ als Journalisten getarnt nach Fretterode käme und Gefahr für das Heise’sche Anwesen bestünde. Der Belagerungszustand und die Angst, von den Betroffenen überfahren zu werden, hätten Nordulf Heise so unter Druck gesetzt, dass er überreagierte. Eigentlich habe er die beiden nur aus dem Dorf jagen wollen.

Observationsfreie Zone

Der kleine Ort Fretterode liegt im thüringischen Eichsfeld nahe der Ländergrenzen zu Hessen und Thüringen. Thorsten und Nadine Heise erwarben das zuvor als Pflegeheim genutzte Gutshaus „Hanstein“ im Jahr 1999, die Familie lebt dort seit Heises Haftentlassung 2002. Von hier aus betreiben sie ihren Verlag und Versandhandel, es ist Treffpunkt für Kameradschaftsabende der Kameradschaft Eichsfeld bzw. Northeim und der Arischen Bruderschaft, Heises engstem Kreis. Außerdem bietet das Haus ausreichend Platz für Liederabende und andere politische Veranstaltungen. Das Gelände umfasst neben dem Hauptgebäude auch Stallungen, einen Turm, ein großes Außengelände samt eines dort 2006 aufgebauten SS-Ehrenmals und ein Nebengebäude.

Mit dem Anwesen schuf sich Heise eine Festung, die allerdings nicht an den hohen Außenmauern des Geländes endet. Das Gelände dominiert den kleinen Ort, Heise hat einen der sechs Sitze im Gemeinderat inne, er wird telefonisch vom ehemaligen Bürgermeister über vermeintlich verdächtige Autos mit Göttinger Kennzeichen informiert. Von den örtlichen Streifenpolizisten wird er als freundlicher Gesprächspartner angesehen und um sein Wildschwein im Garten beneidet.

Die Nebenklage zitierte ein Dokument des niedersächsischen LKA aus dem Jahr 2008, in dem es heißt: „Er [Heise] stelle sich als treusorgender Familienvater und Firmenchef dar und bringe sich aktiv in örtliche Belange ein. Diesen Aktivitäten und der ländlichen Lage seines Wohnhauses, sowie der Besonderheit des Eichsfelder Wohnumfeldes sei es geschuldet, dass ihm im Ort nahezu nichts entgehe. So sei eine observationsfreie bzw. politfreie Zone entstanden.“

Zur Analyse des LKA Niedersachsen passte die Aussage eines Zeugen, den Heise nach der Tat aufsuchte. Danach befragt wollte dieser nicht gegen Familie Heise aussagen. Er habe, so der Zeuge, keine Lust, politische Auseinandersetzungen hier auszubaden. Thorsten Heise wird im Dorf unterstützt, mindestens aber geduldet. Ob aus Sympathie oder aus Angst, das kann nur die Dorfgemeinschaft beantworten.

Tatort Fretterode

Vor diesem Hintergrund muss auch der Übergriff auf die beiden Journalisten am 29. April 2018 interpretiert werden. Sie sind an diesem Sonntag nach Fretterode gefahren, um ein Vorbereitungstreffen für die Demonstration am 1. Mai zu dokumentieren. Sie positionierten sich, um An- und Abreise auf öffentlichem Grund fotografieren zu können. Hierbei wurden sie von Heises ältestem Sohn Nordulf und Gianluca Bruno, der als Heises politischer Ziehsohn gilt, bedroht und mit hoher Geschwindigkeit mit dem Auto verfolgt. Als sie wegen einer Baustellenampel am Ortseingang von Hohengandern zum Wenden gezwungen waren, versperrten die Täter den Fluchtweg und griffen an. Ein Betroffener erlitt einen Schlag mit einem Schraubenschlüssel auf die Stirn, der zum Bruch eines Schädelknochens führte, dem anderen wurde eine Stichverletzung am Bein zugefügt. Das Auto wurde vollständig zerstört und die Spiegelreflexkamera eines Betroffenen entwendet. Geistesgegenwärtig hatte er sich die Speicherkarte der Kamera während der Verfolgungsjagd bereits in die Socken gesteckt, sodass die Bilder der Angreifer der Polizei übergeben und Medien zur Verfügung gestellt werden konnten.

Arbeitsverweigerung der Polizei

Wie notwendig die eigene Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit in diesem Fall werden sollte, zeigte sich rasch nach der Tat bei den „Ermittlungen“ der Polizei. Zwei Streifenwagen wurden nach dem Angriff nach Fretterode geschickt, einer positionierte sich hinter dem Anwesen, sodass Sicht auf das dort abgeparkte Fahrzeug der Täter bestand. Die Beamten protokollierten, wie verschiedene Personen, darunter das Ehepaar Heise, mehrfach zum Auto gingen und Gegenstände hineinlegten und herausnahmen, schritten aber nicht ein. Das Fahrzeug wurde schließlich von Thorsten Heise vom Hof gefahren und der Polizei übergeben. Zwei andere Beamte waren auf der Suche nach den Tätern. Sie befragten die Lebensgefährtin Brunos nach dessen Verbleib. Sie gab an, dass er sich nicht in der gemeinsamen Wohnung im Nebenhaus, sondern im Haupthaus bei Heises befinde. Die Beamten warteten über zwei Stunden auf Familie Heise, man einigte sich darauf, einen begleiteten Rundgang durch das Haus zu machen. Warum es im Anschluss keine ordentliche Hausdurchsuchung gab — weder bei Heises, noch in Brunos Wohnung — konnte auch im Prozess nicht geklärt werden. Die Polizei suchte also weder ordentlich nach den Tätern, noch nach den Tatwaffen und dem Raubgut. Es ist fraglich, ob es ohne die von den Betroffenen angefertigten Bilder überhaupt zu Anklage und Verurteilung gekommen wäre. Umso wichtiger war es dementsprechend für die Verteidigung, die Bilder und die Betroffenen zu diskreditieren.

Täter-Opfer-Umkehr

Die beiden Verteidiger Klaus Kunze und Wolfram Nahrath versuchten mit reichlich Mühe und steilen Thesen zu belegen, dass ihre Mandanten die eigentlichen Opfer des Tages seien, schließlich hätten die Nebenkläger einen „Fotoangriff“ verübt. Nahrath und sein Mandant wählten die recht schlanke Strategie, Nordulf als gut integrierten, ordentlichen Jungen zu präsentieren, der ein tolles Verhältnis zu seinen Eltern pflegt. Dabei sprang ihnen die Jugendgerichtshilfe zur Seite, die mit Nordulf zwar nicht über sein Weltbild sprach, aber zu berichten wusste, wie schwer das Aufwachsen unter der konstanten Ausspähung war.

Kunze holte für Brunos Verteidigung etwas weiter aus und stellte etliche lange, teils konfuse Anträge. In denen benannte er die Nebenkläger wahlweise als Paparazzi oder Linksterroristen, die ihre Recherche nicht zur Aufklärung über Nazistrukturen sondern zur Vorbereitung von Anschlägen nutzten. Als Rechtfertigung zog er die Brandanschläge auf Szene-Immobilien in Sachsen und Thüringen heran.

Bei dieser Idee konnte er auf den Ermittlungsansatz des sächsischen LKA zurückgreifen, das damit uferlose Ermittlungen in der sächsischen Linken legitimiert Bruno sei bedroht, Opfer von „Linksextremisten“ zu werden, so die SOKO Linx des sächsischen LKA, die sich selbstständig bei Bruno meldete. Anlass dafür war eine Website, die Informationen zu den Tätern des koordinierten Naziangriffs auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Zuge einer LEGIDA-Demonstration veröffentlichte. So absurd und haltlos die Ausführungen Kunzes zum Teil waren, die Strategie der Verteidiger ging insofern auf, als dass das Gericht die Mär der linken Bedrohung aufgriff, ohne sie zu überprüfen oder gegenteilige Aussagen von Zeug_innen zu würdigen.

Ein Gespenst geht um in Fretterode

Auch die im Prozess befragten Polizisten waren sich mehrheitlich einig, dass das Anwesen bedroht werde, anstatt dass von ihm eine Gefahr ausginge. Nur ein Beamter sagte aus, er habe die Äußerung Thorsten Heises, man müsse nicht unbedingt die Polizei rufen, um mit Störern umzugehen, als Drohung verstanden. So wurde am Tag des Übergriffs Verstärkung geholt, weil man Angst vor einer Racheaktion von Linken hatte. Man begab sich also nach der Tat, bei der zwei Journalisten mit 100 Kilometern pro Stunde über die schmalen Landstraßen gejagt, ihr Auto komplett zerstört und sie schwer verletzt und beraubt wurden, nach Fretterode, um eine mögliche Gefahr von links abzuwehren, anstatt nach den Tätern zu suchen und Beweismittel sicherzustellen. Belege für diese Einschätzung konnten sie auf Nachfrage nicht liefern, es handele sich um polizeibekanntes Wissen.

Eine Anfrage der Die Linke-Abgeordneten Katharina König-Preuss im Thüringer Landtag nach dem Urteil zeigte, dass es im Zeitraum 2010 bis 2018 keine einzige registrierte linke Aktion oder Veranstaltung in Fretterode gab. Bis 2015 berichtet der Geheimdienst dagegen über wöchentliche Treffen extrem rechter Strukturen dort, 2015 bis 2018 listet die Landesregierung mindestens drei Veranstaltungen auf. Während die Landesregierung für den Zeitraum 2010 bis 2018 von acht rechten Straftaten zu berichten weiß, darunter Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, ist keine einzige linke Straftat in der Zeit zur Anzeige gebracht worden. Anhand dieser Gegenüberstellung ist es um so bitterer, dass sich die Täter auf die Rückendeckung von Polizei und Justiz verlassen können.

Nebenklagevertreter Sven Adam kommentierte in einer Pressemitteilung nach der Urteilsverkündung: „Aus einer gewollten und mittels Hetzjagd umgesetzten No-Go-Area für politische Gegner und Fachjournalisten in Fretterode wird seitens des Gerichts eine emotionale Reaktion auf vermeintliche und in keinem zeitlichen Zusammenhang stehende und nicht in der Beweisaufnahme erörterte Aktionen von Antifaschistinnen und Antifaschisten in Fretterode gemacht. Die letzte Busfahrt von Antifaschistinnen und Antifaschisten nach Fretterode zur öffentlichkeitswirksamen Kritik an dem Neonazi-Zentrum ist 20 Jahre her. Weitere Ereignisse, die eine Bedrohungslage des Hauses Heise hätten begründen können, hat die Beweisaufnahme nicht erbracht.“

Traute Einigkeit

Beim „Eichsfeldtag“ der NPD im Jahr 2016 beschwerten sich die Veranstalter bei der Polizei über Fotoaufnahmen der öffentlichen Parteiveranstaltung. Die Beamten erteilten vier Journa­list*innen Platzverweise, die im Nachgang gerichtlich für rechtswidrig erklärt wurden. Sven Adam, der eine Journalistin vertrat, attestierte der Polizei ein „höchst fragwürdiges Verständnis von Medienarbeit“, denn „[d]en betroffenen Journalist_innen, die sich durch offizielle Presseausweise auswiesen, wird im Bericht vom 31.05.2016 unterstellt, sie seien ‚Angehörige der Antifa, die mit ihrem Auftreten eine Eskalation im Veranstaltungsraum provozierten‘“. Im Folgejahr wurde ein Kamerateam mit einem Transparent mit der Aufschrift „Lügenpresse“ so sehr bedrängt, dass die Arbeiten abgebrochen werden mussten. Die Nebenklage legte ein Bild vor, das Nordulf Heise bei der Anfertigung eines solchen Transparentes zeigte, sowie ein Bild der Aktion, bei der Bruno das Transparent hält.

Auch nach dem Angriff im April 2018 änderte sich nichts. Nur wenige Monate nach der Tat, im November 2018 veranstaltete Heise einen Vortragsabend mit dem Kriegsverbrecher Karl Münter, an dem gut 120 Personen teilnahmen. Nach Beschwerde der Neonazis untersagte die Polizei der anwesenden Presse das Fotografieren, drohte mit Platzverweisen und forderte die Personalien ein, um sie an Heise weitergeben zu können, damit er zu rechtlichen Schritten in der Lage sei. Doppelt perfide: Unter den Journalist_innen befand sich auch einer der Betroffenen des Übergriffs, Ansprechpartner für die Polizei an diesem Abend war Gianluca Bruno. Die Eichsfelder Polizei scheint ein sehr ähnliches Verständnis von Pressefreieheit zu haben wie die Neonazis.

Feindbild Presse

Nur zwei Monate vor der Tat hatte Thorsten Heise in einer Rede im niedersächsischen Karlshöfen „diese Journaille“ zum „Hauptfeind“ erklärt. Darunter fallen alle, die über die extreme Rechte berichten, denn es gehöre „anscheinend bei Journalisten dazu, ein kommunistisches oder Antifa-Parteibuch in der Tasche zu haben, um überhaupt Karriere machen zu können“. Im Sommer 2019 bedrohte er einen Journalisten namentlich mit den Worten: „Gut hinhören, Presse: Der Revolver ist schon geladen, Herr…!“

Während Heise Senior die Szene gegen die Presse aufhetzt, schreitet sein Junior zur Tat. Das Gericht wollte zwischen den Reden des Vaters und der Gewalt des Sohnes keinen strukturellen Zusammenhang erkennen und nahm — im Gegenteil — die Bezeichnung „Zecken“ zum Anlass, die Tat zu bagatellisieren. Klare Worte fand hingegen die Vorstandsvorsitzende des DJV Thüringen Heidje Beutel nach dem Urteil: „Die Tat war nicht nur ein Angriff auf die beiden Journalisten, sondern ein gezielter Einschüchterungsversuch mit dem Ziel, Berichterstattung zu unterbinden“.

Wo sich Justiz und Neonazis Gute Nacht sagen

Fretterode ist ideal, um abseits der Öffentlichkeit schalten und walten zu können. Die Bedeutung seines Nahumfeldes machte Heise kürzlich in einem Interview deutlich: „Wenn man sich seine revolutionäre Spannkraft bewahren will, braucht man die richtige Lebenspartnerin, die dahintersteht. Im Grunde sollte das die ganze Familie mittragen und auch sein Umfeld.“

Gerade am Beispiel des Netzwerks rund um Heise lässt sich die Wichtigkeit investigativer Recherche anschaulich verdeutlichen, denn die Behörden mauern, wenn es um Fretterode geht. Während sich in älteren Jahresberichten des Thüringer Geheimdienstes standardmäßig ein Kapitel zu Heise und seiner Relevanz in der Szene findet, sucht man seit 2019 vergeblich danach. In den Jahren 2020 und 2021 erwähnte der Thüringer Geheimdienst Heise nur ein einziges Mal im Kontext seiner Parteipolitik. Der Gerichtsprozess bot die Hoffnung, die Strukturen um Heise wie die Arische Bruderschaft zu erhellen und der Region vor Augen zu führen, wie gefährlich solche Nachbarn sein können, wenn man nicht ins Weltbild passt. Doch entschloss sich das Gericht, das Nazi-Idyll in Fretterode nicht weiter zu stören und damit die journalistische Arbeit bei einem der zentralsten Netzwerker der deutschen Rechten noch mehr zu erschweren. Denn spätestens mit dem Urteil wird klar: Es kann jeden treffen, der sich in die Nähe wagt.

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