Zwischen Radikalisierung und Selbstverharmlosung

„Aus Brüssel kommt das Gift“: AfD bereitet sich auf Europawahl vor

Meinungsumfragen verheißen der AfD bundesweit mehr als 20 und in östlichen Bundesländern gar deutlich über 30 Prozent. Die „Brandmauer“ der CDU, so es sie überhaupt ernsthaft gegeben hat, zerbröselt. CDU-Chef Friedrich Merz buhlt mit seiner Werbung für die Union als „Alternative für Deutschland mit Substanz“ um die Klientel der AfD — und wertet die Rechtsaußen-Konkurrenz doch nur auf. Die Zahl der AfD-Mitglieder nähert sich nach vier Jahren permanenter Verluste wieder Rekordwerten. Vorbei scheinen auch die Zeiten, als die Partei vor allem mit internem Zoff Schlagzeilen machte.

Der Wiederaufstieg der AfD geht einher mit einer partiellen Gewöhnung an die AfD. Wie selbstverständlich sitzen ihre Spitzenvertreter:innen in den mal „Sommerinterview“, mal — ehrlicher — „Sommerplausch“ genannten Geschwätzrunden im öffentlich-rechtlichen und privaten TV. Ernsthaft berichten Medien über die Ankündigung, einen eigenen Kanzlerkandidaten bzw. eine Kanzlerkandidatin aufstellen zu wollen. Die Redaktion einer Illustrierten verstieg sich gar dazu, eine Titelseite mit Alice Weidel und ein ausführliches Interview mit der AfD-Chefin zu veröffentlichen. „Was können Sie eigentlich außer Hass, Frau Weidel?“, stand zwar distanzierend auf dem Cover neben ihrem schicken Porträt — die PR-Verantwortlichen in der AfD-Zentrale dürften freilich zufrieden gewesen sein, sieben Illustriertenseiten ergattert zu haben.

In dieser „Hochphase“ rief die AfD Ende Juli und Anfang August ihre knapp 600 Delegierten zusammen, erst zu einem Parteitag, dann fünf Tage lang, um Kandidat:innen für die Europawahl zu bestimmen und ein Programm zur Wahl zu verabschieden. Groß war das Interesse der Parteioberen, alles zu vermeiden, was das Bild von „Geschlossenheit“ und „Harmonie“ hätte stören können. Eine Situation wie 2022 in Riesa, als ein umstrittener außenpolitischer Antrag zum vorzeitigen Ende des Parteitags führte, sollte diesmal unbedingt verhindert werden.

Isolationsgefahr

Einstimmig beschlossen die Delegierten denn auch das Wahlprogramm. Es ist Formelkompromiss und zugleich ein Produkt der Selbstverharmlosung. Auf Reizwörter wie den „Dexit“ wird verzichtet. Nach den Brexit-Erfahrungen kommt jede Exit-Forderung nicht gut an. Gleichwohl können sich auch Befürworter:innen einer EU-Auflösung und eines deutschen Austritts problemlos hinter dem Text versammeln. „Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt“, heißt es dort. „Daher streben wir einen ,Bund europäischer Nationen‘ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft.“

Nicht nur mit dem Reizwortverzicht versucht die AfD, eine (weitere) Isolation im Lager der europäischen Rechtsaußenparteien zu vermeiden. Auch der mit großer Mehrheit beschlossene Beitritt zur Partei Identität und Demokratie (ID) dient diesem Zweck. Der ID-Fraktion in Brüssel gehörte die AfD bereits an, der zugehörigen Partei jedoch bisher nicht. Zwar scheint es ohnehin schwierig bis unmöglich zu sein, eine geeinte Rechtsaußenkraft in Europa zu bündeln — unter anderem weil außen- und sicherheitspolitisch die Positionen einer PiS in Polen und einer Fidesz-Partei in Ungarn einander diametral entgegenstehen –, eine unklare Haltung zur ID brächte die AfD aber vollends in eine Außenseiterrolle. Mehr als ein Warnzeichen war bereits, dass die AfD zu vielen Einigungstreffen von EU-Rechtsaußen gar nicht erst eingeladen war.

Im Vorfeld war gleichwohl die Kritik laut. „Die AfD wäre nicht mehr die klare, unabhängige Alternative für Deutschland, sondern eine von vielen Stimmen im rechtskonservativen EU-Lager“, hatten die Beitrittsgegner gewarnt. Die AfD werde „nicht mehr unabhängig entscheiden können“, sondern lediglich ein „nationaler Verband einer EU-Partei“ sein, während ihre Aufgabe doch „die Vertretung deutscher Interessen“ sei. Beim Parteitag in Magdeburg warnte der Bundestagsabgeordnete Martin Sichert davor, den eigenen „Markenkern“ aufzugeben. Die AfD sei „Anwalt des deutschen Volkes“. Jeder Kompromiss, den sie in der ID-Partei schließen müsse, sei „ein Verrat an den deutschen Wählern“.

Großmachtträume

In Alice Weidel fanden die Beitrittsgegner am Ende aber eine übermächtige Gegnerin. „Wir brauchen in Europa starke Partner, wir wollen keine randständige Partei sein. Wir wollen in Europa Mehrheiten haben gegen die etablierten Parteien, die sich Europa zur Beute gemacht haben“, sagte sie. Ihre Bedenken haben die vormaligen Kritiker mittlerweile zurückgestellt. Die Radikalität der künftigen Bündnispartner gefällt ihnen. Zum Beispiel die von Kostadin Kostadinov. Der Chef der bulgarischen Partei Vazrazhdane (Wiedergeburt) umschmeichelte die Delegierten in Magdeburg mit den Worten: „Es ist höchste Zeit, dass Ihr Land seinen rechtmäßigen Platz als Großmacht einnimmt, und das nicht nur in Europa.“ Auch sein Hinweis, dass Deutschland und Bulgarien Verbündete in beiden Weltkriegen waren, gefiel. Von dem Bulgaren könne man sich „Mut und Leidenschaft“ abschauen, betonte Maximilian Krah, der später auf Listenplatz 1 gewählt wurde.

Weit eher noch als das Programm spiegelt die 35-köpfige Kandidat:innenliste — darunter nur vier Frauen — die radikalisierte Linie der AfD wider, wie sie sich bei einem Parteitag im vorigen Jahr durchgesetzt hatte. Die AfD müsse „den Kurs halten, den wir in Riesa begonnen haben“, forderte Spitzenkandidat Krah. Eine „Mäßigung“ analog zu anderen europäischen Rechtsaußenparteien ist seine Sache nicht: „Wir sind mittlerweile die spannendste Rechtspartei in ganz Europa, überall hat man den Leuten nämlich erzählt, man muss sich anpassen, man müsse eine Art Werteunion sein und gar keine echte Alternative.“ Krah wurde mit 65,7 Prozent der Stimmen gewählt.

Verschwörungsideologische und antisemitische Töne stimmte der Listen-Zweite Petr Bystron an. „Aus Brüssel kommt das Gift“, wusste er zu berichten. Dort würden „von den Globalisten still und heimlich Vorgaben gemacht“, die nachher in den nationalen Parlamenten nur noch durchgewunken würden. Er wetterte gegen „die Kriegstreiber, die uns in Kriege aufhetzen wollen, gegen die Globalisten, die uns zwangsimpfen wollten, die uns enteignen wollen, die uns im Prinzip versklaven wollen“. Die AfD-Politiker seien die einzigen, die den Mut hätten, gegen die „Schwabs, Gates‘ und Soros‘ dieser Welt“ anzukämpfen. 82,4 Prozent für Bystron.

Plädoyer für Pushbacks

„Unsere europäische Zivilisation ist in Gefahr durch Masseneinwanderung“, rief der Listen-Dritte René Aust ins Publikum. „Unverhandelbar“ sei es, Europa in eine Festung gegen Zuwanderer zu verwandeln. Menschen aus Afrika warnte er: „Ihr werdet diesen Kontinent nicht zu eurer neuen Heimat machen.“ 67,8 Prozent für Aust. Als „einziges Irrenhaus“ bezeichnete die Listen-Vierte Christine Anderson die EU. „Die Irren haben das Kommando über unser Land übernommen, und die Kommandobrücke ist in Brüssel.“ Die „Entrechtung aller Völker dieser Erde“ schreite voran. Ihre Forderung: „Dexit, jetzt gleich und sofort!“ 83,8 Prozent für Anderson. „Was wir wirklich fürchten müssen, das ist nicht der menschengemachte Klimawandel. Nein, wir sollten uns vielmehr fürchten vor dem menschengemachten Bevölkerungswandel, der das alte Europa in eine Siedlungsregion für Millionen Afrikaner und Araber umwandeln soll“, rief die Listen-Neunte Irmhild Boßdorf den Delegierten zu. Sie forderte eine „millionenfache Remigration“ gegen die „Asylforderer“. Boßdorf: „Was wir brauchen, sind Pushbacks — egal was der Europäische Gerichtshof dazu sagt.“ 75,6 Prozent für sie.

Auch auf den Plätzen weiter hinten auf der Liste setzten sich vorzugsweise die Kandidaten durch, die sich möglichst radikal äußerten: 79,2 Prozent für den Listen-Elften Siegbert Droese, der eine „Abrissbirne“ für die EU, das „Zentrum des Regenbogenimperiums“, forderte. 85,8 Prozent für den Listen-Zwölften Tomasz Froelich, der vor „linksliberaler Wohlstandsverwahrlosung“ und „Regenbogen-Terror“ warnte. 52,7 Prozent für Gunnar Beck auf Listenplatz 18, der „Kernenergie und Aufforstung statt Degrowth und The Great Reset, Asylstopp und Remigration statt Großem Austausch!“ verlangte. 54,7 Prozent für den 21. auf der Liste, Lars Haise, einen Lokführer, der sagte, heutzutage sei ein Zug ein „Hort der Straftaten, ein rollendes Asylantenheim“.

Finale Abkehr von Meuthen

Die AfD-Gruppe in Brüssel sei zu lange dem Meuthen-Kurs verhaftet gewesen, hatte Chrupalla zu Beginn des Parteitags kritisiert. Der von ihm gewünschte „Generationenwechsel“ in der EU-Delegation kam tatsächlich zustande. Die Noch-Abgeordneten Joachim Kuhs, Sylvia Limmer, Guido Reil und Bernhard Zimniok scheiterten; Nicolaus Fest war gar nicht erst angereist. Lediglich die ebenfalls aussortierte Sylvia Limmer suchte in Magdeburg den Konflikt mit Partei und „Flügel“: „Mich haben auf Befehl die strammen Höcke-Kader kaltgestellt als Abrechnung dafür, dass ich mitgestimmt habe, Kalbitz aus der Partei zu werfen. Glückwunsch, Herr Höcke!“, rief sie.

Von den 2019 gewählten elf Europaabgeordneten haben nur vier die Chance, nach Brüssel zurückzukehren: Krah, Anderson (Platz 4) und Markus Buchheit (Platz 7), die beide lange zur Meuthen-Riege zählten, in Magdeburg aber wiedergewählt wurden, weil sie trotz allem auf eine kräftige Unterstützung ihrer Landesverbände Hessen und Bayern bauen konnten, sowie Gunnar Beck (Platz 18), der von Nils Hartwig, dem Bundesvize der Jungen Alternative (JA) vorgeschlagen wurde und nicht zuletzt von jüngeren AfD-Delegierten gewählt worden sein dürfte. Diese jüngeren Delegierten konnten sich über einen Erfolg freuen: Unter den ersten 14 Listenkandidat:innen befinden sich gleich vier AfD-Politiker:innen mit biographischem Vorlauf in der JA: Aust (Platz 3), Alexander Jungbluth (Platz 5), Froelich (Platz 12) sowie Mary Khan-Hohloch (Platz 14).

Der Bundesparteitag des Jahres 2022 in Riesa hatte die Rechtsradikalisierung der AfD ratifiziert. Magdeburg 2023 war die logische Fortsetzung. Dabei geht es weniger darum, dass das Gewicht des „Flügels“ gestiegen ist. Vielmehr hat sich die Partei als Ganzes radikalisiert. Einige, die sich nach AfD-Maßstäben als „gemäßigt“ verstanden, sind ausgetreten. Ein anderer Teil ist in den innerparteilichen Diskussionen verstummt. Ein dritter und größerer Teil der ehemals angeblich „Gemäßigten“ hat sich mit der Radikalisierung der Gesamtpartei abgefunden und wirkt daran mit. Zum Beispiel der NRW-Landesvorsitzende Martin Vincentz. Gemeinsam mit Björn Höcke und anderen legte er einen Alternativantrag zur Programmpräambel vor, und er war es, der die — am Ende auch erfolgreiche — Kandidatin Boßdorf vorschlug.

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