Hintergrundorganisation des Neonazismus
Zum Verbot der „Artgemeinschaft“
Am 27. September 2023 sprach das von Nancy Faeser geführte Bundesministerium des Innern und für Heimat das Verbot der 1951 gegründeten und seit 1957 als Verein eingetragenen Artgemeinschaft — Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung aus, das auch deren Regionalgruppen einschließt, die „Gefährtenschaften“, „Freundeskreise“ und „Gilden“ genannt werden. Ebenfalls mit verboten wurde der angegliederte Verein Familienwerk e.V., der unter anderem Geldleistungen an Familien koordinierte.
Die Artgemeinschaft, deren Anfänge schon in den germanengläubigen völkischen Gruppen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus lagen, war eine kleine, nach innen gerichtete Kernorganisation des Neonazismus (Vgl. LOTTA #59, S.33 f.). Das Ausleben einer als „germanisch“, „arisch“ oder „deutsch“ definierten Kultur und Religion waren die zentralen Inhalte und Praxen dieser Gemeinschaft. Dabei stand die Artgemeinschaft in der kulturellen und ideologischen Kontinuität des Nationalsozialismus. Sowohl ihre Literatur als auch viele Kult- und Brauchtumsveranstaltungen wurden dem Nationalsozialismus entlehnt. Kern ihrer Ideologie war ein völkischer Rassismus, der von einem homogenen germanisch-deutschen Volk ausging, das durch Kultur und „Rasse“ definiert ist. Hier ging es jedoch nicht in erster Linie um eine ideologische Vorstellung, sondern um ein Ausleben dieser im Rahmen von pseudo-religiösen Kulten wie Sonnenwendfeiern oder „Eheleiten“, also Heiraten, aber auch in Volkstänzen oder „Brauchtumsfeiern“ wie Erntedank.
Die Artgemeinschaft war über Jahrzehnte legal als eingetragener Verein organisiert, ihre Unterlagen waren im Vereinsregister einsehbar. Im Vereinsorgan Nordische Zeitung, in dem man die Jahre nach „Stonehenge“ statt nach Christi Geburt zählte, hielt man sich mittels Geburts- und Traueranzeigen über die „Sippschaften“ auf dem Laufenden. Die Zusammenkünfte zur Mitgliederversammlung, genannt „Thing“, und zu den Sonnenwendfeiern fanden im mitten im Wald gelegenen Hotel Hufhaus bei Ilfeld im Thüringer Teil des Harzes statt. Obwohl die Artgemeinschaft nicht sonderlich klandestin agierte und ihre zentrale Bedeutung für die extreme Rechte klar erkennbar war, rückte sie selten ins öffentliche Bewusstsein. Bewusst wirkte die Organisation in die Szene hinein, statt sich nach außen zu präsentieren, und profitierte davon, als Familienorganisation mit Frauen und Kindern als weniger gefährlich wahrgenommen zu werden.
Kernmilieu des Neonazismus
Die Praxis der Artgemeinschaft richtete sich auf innere Festigkeit, die Einbindung in eine kleine und verschworene Gemeinschaft. Die Akteur*innen bilden dabei ein dichtes Netzwerk, um sich in einer möglichst geschlossenen Lebenswelt bewegen zu können. Kinder und Jugendliche sollen gefestigt werden, so dass sie vom Alltag in Kindergarten und Schule nicht zu „undeutschem“ Denken und Handeln verführt werden. Als „Sippengemeinschaft“ waren ganze Familien aus dem Kernmilieu des Neonazismus, teilweise über mehrere Generationen, in der Artgemeinschaft organisiert. So die „Sippe Bieber“ um den SS-Mann und NPD-Kader Sepp Bieber und Tochter Edda Schmidt, die Familie Nahrath, aus der die Führer der Wiking Jugend kamen, die Familie Lukas/Rennicke, aber auch Familien, deren Mitglieder erst in den 1980er oder gar den 1990er Jahren zum Neonazismus gefunden haben, wie Familie Tegethoff aus Bad Honnef oder Familie Spilker aus Herford.
Schon für die 1970er Jahre lässt sich nachweisen, dass auch wichtige Akteure des Rechtsterrorismus in der Artgemeinschaft organisiert waren. Genannt sei hier nur Uwe Rohwer, Anführer der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Rohwer. Auch im NSU-Komplex wurde die Artgemeinschaft relevant, die als eingeschworene Gemeinschaft Loyalität und Verschwiegenheit bot. Als Ralf Wohlleben im Sommer 2018 aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, nahm ihn der damalige Vorsitzende der Artgemeinschaft Jens Bauer auf seinem Hof in Elsteraue auf.
Hausdurchsuchungen
Im Zusammenhang mit dem Verbot der Artgemeinschaft wurden am 27. September 2023 die Wohnhäuser von insgesamt 39 Vereinsmitgliedern sowie weitere mit der Artgemeinschaft in Verbindung stehende Räumlichkeiten in zwölf Bundesländern durchsucht. Darunter waren in Bayern die Wohnungen der seit Oktober 2021 als Vereinsvorsitzende fungierenden Sabrina Seiferth in Hausen-Roth und der Schatzmeisterin Ute Lukas in Schillingsfürst, zwei weitere Durchsuchungen fanden in Ainring und Dombühl-Kloster Sulz statt. In Baden-Württemberg rückte die Polizei in dem Dorf Hesselbronn an und durchsuchte das Wohnhaus von Alexander Donninger, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins, und seiner ebenfalls in der Artgemeinschaft aktiven Lebensgefährtin Inga Förnzler sowie ein Postfach, über das die Artgemeinschaft ihren Buchversand betrieb. Weiterhin wurden zwei Scheunen eines 34-Jährigen durchsucht. Dabei seien unter anderem Waffen, Waffenteile und Munition sowie ein sondergeschütztes entmilitarisiertes Fahrzeug sichergestellt worden. Die Recherchen der Zeitung Südwest Presse ergaben, dass es sich bei dem sichergestellten Fahrzeug um einen Radpanzer und bei dem 34-Jährigen um den Bruder Förnzlers handeln soll, auf dessen Beteiligung an verschwörungsideologischen Demos lokale Antifaschist*innen seit 2022 hinweisen. Auch bei einigen ehemaligen Vorstandsmitgliedern fanden Hausdurchsuchungen statt. So in Sachsen-Anhalt bei Jens Bauer, der bis 2021 Vorsitzender der Artgemeinschaft war, in NRW bei Julia Czaja aus Porta Westfalica, der von 2016 bis 2021 stellvertretenden Leiterin der Artgemeinschaft, und beim ehemaligen Schriftleiter Holger Steinbiß in Lippstadt.
In NRW gab es weitere Hausdurchsuchungen bei dem Essener Arzt Gerhard H. und in Oberhausen bei Jürgen Mosler, dem Redakteur der Vereinspublikation Nordische Zeitung. Mosler wurde 1986 bekannt, als er sich gegen Michael Kühnen stellte, später war er in der FAP und NPD aktiv. In den 1990er Jahre gehörte er zu den wichtigen Kadern des bundesdeutschen Neonazismus.
In Hessen wurde die Polizei bei sechs Personen vorstellig: in Baunatal, Buseck, der Gemeinde Hadamar und in Frankfurt. Mindestens zwei Frauen sind darunter, das Alter der Durchsuchten reicht von 37 bis 84 Jahre. Auch ein ehemaliger Hesse bekam unerwünschten Besuch: Marcel Wöll, ehemaliger NPD-Landeschef war nach seinem Gefängnisaufenthalt nach Gutenborn in Sachsen-Anhalt verzogen und Schriftleiter der Artgemeinschaft geworden. In Thüringen wurden neben dem Hufhaus in Ilfeld im Harz noch zwei weitere Objekte durchsucht.
Je zwei Personen wurden in Gau-Odernheim in Rheinland-Pfalz und in Doberlug-Kirchhain in Brandenburg Ziel des Polizeieinsatzes. In Schleswig-Holstein wurde ein Objekt in Meddewade durchsucht, in Lübeck sei lediglich eine Verbotsverfügung ausgehändigt worden. Je eine Durchsuchung gab es in Husum in Niedersachsen und in Lütow in Mecklenburg-Vorpommern.
Wirkung und Ausblick
Ob das Verbot tatsächlich Wirkung entfalten kann, zeigt sich einerseits daran, inwieweit Gelder, Immobilien, Ausrüstung und anderer materieller oder auch immaterieller Besitz des Vereins beschlagnahmt wurde. Der Verlust des Schriftmaterials dürfte die Szene wenig stören, schon eher, dass mit dem auf die Artgemeinschaft eingetragenen Symbol „Adler fängt Fisch“ ein weitreichender Werbe- und Ideologieträger wegfällt. Seine Verwendung ist, so das Verbot Rechtskraft erreicht, strafbar, ebenso wie das Symbol der Irminsul in Kombination mit dem Sternenbild des Großen Wagens. Andererseits hängt die Wirkung des Verbots von der Frage ab, ob sich die allgemeine und behördliche Wahrnehmung geschärft hat. Können die Aktivitäten, die schon kaum wahrgenommen wurden, als sie noch legal waren, illegal weitergeführt werden, wenn man sich statt in Lodenjacken und Zimmererhosen in Turnschuhen und Jeans mit Kind und Kegel zum Volkstanz trifft? Den Mitgliedern der Artgemeinschaft wird daran gelegen sein, den Zweck der Artgemeinschaft, also die Ideologie- und Netzwerkbildung und vor allem die kulturelle Praxis, in einem neuen Rahmen fortführen zu können.
Hier bieten sich verschiedene Optionen an, wobei eine zu offensichtliche Fortführung ein strafbarer Verstoß gegen das Verbot wäre. Mit dem StiftungsWerk Zukunft Heimat, dessen Programm sich wie eine Artgemeinschaft light liest, stände ein Verein bereit, insbesondere die kulturelle Praxis fortzuführen. Vorsitzender ist mit Michael Seiferth der Ehemann der letzten Vorsitzenden der Artgemeinschaft, Sabrina Seiferth. Vielleicht wäre eine Fortführung in diesem Rahmen aber auch zu auffällig. Auch ein Engagement im Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff) e.V. wäre denkbar, handelt es sich doch auch bei diesem um eine rechtsesoterische Sekte und „Sippengemeinschaft“. Aber könnten sich die orthodoxen Neonazis mit der kruden Lehre von Mathilde Ludendorff anfreunden? Können sie über die ideologischen Differenzen hinwegsehen, um sich reorganisieren zu können? Auch der Freundeskreis Ulrich von Hutten weist im kulturellen Gestus und mit dem orthodoxen Bezug auf den Nationalsozialismus Überschneidungen zur Artgemeinschaft auf. Zudem hat hier Axel Schunk, ein ehemaliger Vorsitzender der Artgemeinschaft, eine wichtige Funktion inne. Aber der Freundeskreis ist theorieorientiert und kopflastig, es existieren kaum religiöse Elemente. Der Freibund ist im Kern eine völkische Jugendorganisation, von daher passt diese nicht ganz, aber auch hier kommen zu bestimmten Gelegenheiten die Alten mit dazu. Vom kulturellen Gestus her ähneln sich Artgemeinschaft und Freibund, aber der Freibund ist zwar völkisch, aber nicht mehr originär am Nationalsozialismus orientiert.
Wie bei der 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) könnten sich die bisherigen Mitglieder der Artgemeinschaft aber auch ins vermeintlich „Private“ zurückziehen und die ideologisch aufgeladenen Kultfeiern im „kleinen Rahmen“ durchführen. Einige der Mitglieder der bisher in der Artgemeinschaft aktiven Familien kennen sich aus im Umgang mit Verboten, gehörten sie doch, wie die Detmolder Familien Ulrich und Hanusek (vgl. LOTTA #88, S. 28), der 2009 verbotenen HDJ an.
Mit dem Verbot der Artgemeinschaft wurde eine der ältesten und traditionsreichsten Hintergrundorganisationen des Neonazismus aufgelöst, doch ihre Mitglieder werden ihre Aktivitäten und Netzwerke weiterführen. Die Wirkung des Verbots muss sich daran messen lassen, wie konsequent Nachfolgeaktivitäten verfolgt und verhindert werden.