Der Giorgia-Pakt
Die äußerste Rechte steht bei der Europawahl vor Zugewinnen
Entwicklungen in der extremen Rechten gehören eigentlich nicht zu dem Themenspektrum, mit dem sich der European Council on Foreign Relations (ECFR) üblicherweise befasst. Die Denkfabrik, die europaweit vernetzt ist und Büros in sieben europäischen Hauptstädten und in Washington unterhält, analysiert gewöhnlich Fragen der Außenpolitik. Sie beschäftigt sich mit dem Ukraine-Krieg, mit der Flüchtlingsabwehr der EU in Nordafrika, mit maritimen Einflusskämpfen im Pazifik oder der Zukunft der transatlantischen Beziehungen nach einem etwaigen Wahlsieg von Donald Trump. Besondere Aufmerksamkeit widmet der ECFR aber auch der EU, dem Stand der europäischen Integration, dem inneren Zusammenhalt des Staatenbundes und seinen Entwicklungsperspektiven. In diesem Kontext hat die Denkfabrik unter anderem die Europawahl im Blick, die vom 6. bis zum 9. Juni dieses Jahres abgehalten wird. Zuletzt analysierte sie eine Vielzahl an Prognosen für die Wahl und legte im Januar die Ergebnisse der Untersuchung vor. Die Überschrift: „Ein scharfer Schwenk nach rechts“.
Die Umfragen mit Blick auf die Wahl, die EU-weit vorlagen, ließen — so warnte der ECFR — wenig Raum für Illusionen. Bei der Europawahl werde es wohl „in vielen Ländern einen größeren Rechtsruck“ geben; Rechtsaußen-Parteien würden voraussichtlich „in der gesamten EU Stimmen und Sitze dazugewinnen“ können. In neun der 27 Mitgliedstaaten hätten sie sogar beste Chancen, zur stärksten Kraft zu werden, nämlich in Belgien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn. In neun anderen Mitgliedstaaten könnten sie voraussichtlich zur zweit- oder drittstärksten Kraft werden — in Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Lettland, Portugal, Rumänien, Schweden und Spanien. Ihre beiden Fraktionen im Europaparlament, die European Conservatives and Reformists (ECR) und die Identity and Democracy (ID), könnten Umfragen zufolge damit rechnen, zusammen sogar mehr Parlamentssitze zu gewinnen als die stärkste Einzelfraktion, die konservative EVP (Europäische Volkspartei), und gemeinsam auf bis zu einem Viertel der Stimmen hoffen. Welche Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass bei der Wahl zum Europaparlament tatsächlich ein Durchmarsch der äußersten Rechten droht, das zeigt recht deutlich ein Blick auf einzelne Länder und Ländergruppen.
Der Westen
In Frankreich etwa kann der Rassemblement National (RN), die Partei von Marine Le Pen, laut einer Umfrage von Ende März auf rund 30 Prozent der Stimmen hoffen. Renaissance, die Partei von Präsident Emmanuel Macron, liegt demnach weit abgeschlagen mit 18 Prozent auf Platz zwei. RN-Spitzenkandidat Jordan Bardella, der seit November 2022 als RN-Präsident amtiert, kommt in der Öffentlichkeit sehr gut an; eine Liste der populärsten französischen Personen, die Le Journal du Dimanche im Dezember 2023 publizierte, führte ihn auf Platz 30, nur vier Plätze hinter dem Fußballer Antoine Griezmann. Für den RN kandidiert unter anderem auch Fabrice Leggeri, ein einstiger Leiter der EU-Grenzabschottungsagentur Frontex, der im April 2022 zurücktreten musste: Ihm wurde vorgeworfen, illegale Pushbacks von Flüchtlingen vertuscht zu haben. Zu den 30 Prozent des RN kommen nach Umfragen noch 6 Prozent für die Partei Reconquête hinzu, die von Éric Zemmour geführt wird und rechts des RN steht. Reconquête-Spitzenkandidatin für die Europawahl ist Le Pens Schwester Marion Maréchal.
Auch in den Niederlanden steht eine Partei der extremen Rechten in Umfragen auf Platz eins: Meinungsforscher:innen sahen die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders im März bei stolzen 33 Prozent. Abgeschlagen auf Platz zwei folgte das Bündnis der Sozialdemokrat:innen mit den Grünen (GL-PvdA) mit gerade einmal 17 Prozent der Stimmen. Hinzu kamen 5 Prozent für die ebenfalls weit rechts stehende BoerBurgerBeweging (BBB). In Belgien wiederum sahen Umfragen Ende März den extrem rechten Vlaams Belang (VB) mit 27,4 Prozent der Stimmen in Flandern, dem bevölkerungsstärkeren nördlichen Landesteil, an erster Stelle und damit auf Platz eins in Belgien insgesamt; ihm folgte mit 20,4 Prozent die konservative Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA). Der VB gehört im Europaparlament der ID-Fraktion an; die N-VA wiederum reiht sich in die ECR-Fraktion ein.
Der Süden
In Italien führten im März die ultrarechten Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Umfragen mit rund 28 Prozent der Stimmen an. Hinzu kam die Lega von Matteo Salvini, der einst als Innenminister brachial gegen Flüchtlinge vorging und gegenwärtig als Infrastrukturminister amtiert; sie lag bei 9 Prozent. Die italienische Regierungskoalition, der neben den Fratelli d’Italia (ECR) sowie der Lega (ID) die konservative Forza Italia unter Außenminister Antonio Tajani angehört und die seit Oktober 2022 amtiert, hält sich bislang stabil; das zeigte nach einem punktuellen Einbruch in der Regionalwahl Ende Februar auf Sardinien, in der der Rechtsaußenkandidat knapp verlor, der Erfolg der Regierungskoalition in der Regionalwahl im März in den Abruzzen, bei der der Kandidat der Fratelli d’Italia, Marco Marsilio, mit 53,5 Prozent der Stimmen klar gewann. Meloni ist bemüht, stärkeren Einfluss auch auf die Medien zu erhalten, und besetzte bereits 2023 den Chefposten beim staatlichen Fernsehsender RAI mit dem ihr sehr nahe stehenden Giampaolo Rossi, der einst damit Aufsehen erregt hatte, dass er „Nigerianer und Gutmenschen“ als „Abschaum“ bezeichnete.
Lediglich für Platz drei reicht es laut den Umfragen für die je stärksten Rechtsaußenparteien in Spanien und in Portugal. Während in Spanien die Partei Vox bei rund 10 Prozent steht und um Platz drei noch kämpfen muss, hat ihn in Portugal die Partei Chega mit rund 18 Prozent der Stimmen sicher. Vox (ECR) ist inzwischen in fünf Regionalparlamenten an der Regierung beteiligt: in Aragon, Extremadura, Kastilien und León, Murcia und Valencia. Chega wiederum befindet sich im Aufwind, kann vor allem bei jungen Menschen punkten; besonders starke Ergebnisse erzielt sie bei Wähler:innen im Alter von 18 bis 35 Jahren. In ländlichen Regionen wiederum konnte die Partei ihren Anteil gar von 10,9 Prozent auf 36,5 Prozent steigern. In der Algarve und in Teilen des Alentejo lag Chega vor allen anderen Parteien.
Der Norden
In Schweden ist eine Rechtsaußenpartei zweitstärkste Kraft: Die Schwedendemokraten konnten im Februar laut Umfragen mit 21 Prozent der Stimmen rechnen. Sie tolerieren heute die Minderheitsregierung in Stockholm, die aus den konservativen Moderaten, den Christdemokraten und den Liberalen besteht. Ihr Vorsitzender Jimmie Åkesson hat allerdings Anfang März angekündigt, sich nicht auf Dauer mit der Rolle eines Mehrheitsbeschaffers zufriedenzugeben, sondern spätestens nach den Wahlen im Jahr 2026 gleichberechtigt in die schwedische Regierung eintreten zu wollen. In Finnland sind die ultrarechten Die Finnen (Perussuomalaiset) schon heute mit sieben Minister:innen an der Regierung beteiligt. Sie sorgten im Sommer 2023 für diverse Skandale, als Kontakte eines ihrer Minister in die finnische Neonaziszene und offen rassistische Äußerungen weiterer bekannt wurden.
In Dänemark lag im März mit den Danmarksdemokraterne die erste Rechtsaußenpartei mit laut Umfragen 9 Prozent auf Platz fünf; 4 Prozent gaben an, für den Ex-Platzhirsch der äußersten dänischen Rechten, die Dansk Folkeparti (ID), stimmen zu wollen. Auf starke Ergebnisse kann die äußerste Rechte zudem im Baltikum hoffen. In Estland liegt das ID-Mitglied Eesti Konservatiivne Rahvaerakond (EKRE) zwar nicht mehr bei den 23 Prozent, die die Partei im vergangenen Jahr zeitweise in Umfragen erzielen konnte. Sie hält sich aber bei 17 Prozent. Von 2019 bis 2021 war sie erstmals an der estnischen Regierung beteiligt gewesen. In Lettland sehen Meinungsforscher:innen die Nationale Vereinigung „Alles für Lettland“ — „Für Vaterland und Freiheit/Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“ (ECR) mit 12 Prozent auf Platz drei. Auf ebenfalls 12 Prozent kann demnach die Rechtsaußenpartei Latvia First des ehemaligen Wirtschafts- und Transportministers Ainārs Šlesers hoffen.
Das Zentrum und der Osten
In Deutschland ist es der AfD laut Umfragen gelungen, sich bei rund einem Fünftel der Stimmen zu konsolidieren. In Österreich konnte die FPÖ zuletzt zwar nicht mehr ganz an die Spitzenwerte von 30 Prozent anknüpfen, die sie Ende 2023 in Prognosen erzielte; doch lag sie mit 27 Prozent immer noch klar auf Platz eins. In Polen verlor die Ende 2023 von der Regierung abgelöste Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, ECR) von Jarosław Kaczyński zwar erstmals seit langem in den Umfragen ihren ersten Platz an die konservative Platforma Obywatelska (PO) von Ministerpräsident Donald Tusk, befand sich aber im März nach ihrem Tiefpunkt von 29 Prozent wieder auf dem Weg nach oben. In Ungarn konnte sich der Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán bei knapp unter 50 Prozent konsolidieren. Nummer zwei war im März die sozialdemokratische Demokratikus Koalíció unter Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány — mit 14 Prozent.
In Tschechien und der Slowakei sind die Zuordnungen der jeweils in Umfragen führenden Parteien umstritten. Der European Council on Foreign Relations stuft die tschechische ANO des Milliardärs Andrej Babiš und die slowakische Smer von Ministerpräsident Robert Fico als stark rechtslastig ein. ANO fischt in der Rechten, ist allerdings im Europaparlament in der liberalen Fraktion Renew Europe organisiert. Der ECR-Fraktion gehört die zweitstärkste tschechische Partei, die rechtskonservative ODS (Občanská demokratická strana) an, die im März bei 14 Prozent lag; auf Platz vier fand sich mit 10 Prozent die ID-Partei SPD (Svoboda a přímá demokracie). Die slowakische Smer gehörte bis Oktober 2023 im Europaparlament der Fraktion der Sozialdemokrat:innen an; ihre zwei Abgeordneten kamen dann jedoch ihrem Ausschluss durch Austritt knapp zuvor. Der Grund: Smer koaliert in Bratislava unter anderem mit der extrem rechten SNS (Slovenská národná strana). Diese konnte bei der Europawahl laut Umfragen im März auf 5 Prozent hoffen, die ECR-Partei SaS (Sloboda a Solidarita) zusätzlich auf 6 Prozent. Die ECR kann zudem auf Verstärkung aus Rumänien hoffen: Dort lag ihre Mitgliedspartei AUR (Alianța pentru Unirea Românilor) im März mit rund 19 Prozent auf Platz zwei.
Koalitionsoptionen
Die neue Stärke der äußersten Rechten ist das eine. Ein anderes ist die Frage, wie sie sich auf die konkrete politische Arbeit im Europaparlament auswirken wird. Dort dominierten stets zwei große Fraktionen, die der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) und die der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten. Beide werden allerdings seit Jahren immer schwächer. Bei der Europawahl im Jahr 2019 verloren sie zum ersten Mal die Mehrheit, die sie zuvor stets hatten; der ECFR sah sie in seiner Prognose vom Januar von heute 45 Prozent der Sitze auf nur noch 42 Prozent bei der Wahl im Juni einbrechen. Selbst wenn die „große Koalition“ sich noch mit der liberalen Fraktion Renew Europe verbünden, wenn sich also eine „supergroße Koalition“ herausbilden würde, dann erreiche diese dennoch nur 54 Prozent, schrieb der ECFR. Das sei zwar rechnerisch die Mehrheit, doch helfe das in der Praxis nicht viel: Weil im Alltag des Europaparlaments immer wieder einzelne nationale Parteien oder Abgeordnete aus dem Konsens der großen Fraktionen ausbrächen, seien 54 Prozent für eine stabile Mehrheit nicht genug.
Was nun aber tun, wenn es auch für eine „supergroße Koalition“ in der Praxis nicht reicht? Der ECFR rechnete die Lage systematisch durch. Täten sich EVP und Renew Europe mit den ECR zusammen, schrieb er, dann kämen sie auf 48 Prozent; das genüge nicht. Verbünde die EVP sich mit den ECR und der ID, dann kämen sie auf 49 Prozent. Auch dies sei nicht genug — doch gebe es die Möglichkeit, fraktionslose Rechte hinzuzuziehen, zu denen nicht zuletzt der ungarische Fidesz unter Viktor Orbán gehöre. Für eine stabile Mehrheit kämen wohl auch auf diesem Wege nicht genug Stimmen zusammen; doch könnten sich zumindest theoretisch „zum ersten Mal in der Geschichte des Europäischen Parlaments Mehrheitskoalitionen rechts von Renew Europe bilden“, konstatierte der ECFR. Und: Ein Ende der Rechtsverschiebung ist in der EU nicht wirklich abzusehen. Eine nicht mehr bloß rechnerische, sondern auch politisch tragfähige Mehrheit im Europaparlament unter Einschluss der äußersten Rechten ist womöglich nur noch eine Frage der Zeit.
Der EVP-ECR-Dialog
Erste Sondierungen finden längst statt. Bereits seit Jahren wird von einem Dialog der EVP mit den ECR berichtet. Ein erstes Ergebnis dieses Dialogs war es, dass im Januar 2022 Roberts Zīle von der ultrarechten lettischen Nationalen Vereinigung „Alles für Lettland“ — „Für Vaterland und Freiheit/Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“, einem ECR-Mitglied, zu einem der Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt wurde. Im Januar 2023 berichtete die Zeitschrift The European Conservative, die Geld von der ungarischen, Orbán nahe stehenden Batthyány Lajos Foundation (BLA) erhalten hat, Meloni arbeite gemeinsam mit dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) systematisch daran, eine „Achse ECR-EVP“ zu schaffen, um die politischen Verhältnisse im Europaparlament nach rechts zu drücken. Im Mai 2023 rief Italiens Außenminister Antonio Tajani von der EVP-Partei Forza Italia dazu auf, den EVP-ECR-Dialog auch nach der Europawahl 2024 weiter voranzutreiben. In der italienischen Regierungskoalition aus Fratelli d’Italia (ECR), Forza Italia (EVP) und Lega (ID) ist sogar eine umfassende Rechtsaußenkoalition vorbildhaft modelliert.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die beste Chancen hat, auch der nächsten EU-Kommission vorzustehen, hat bereits ihre Fühler ausgestreckt. Als sie im Juli 2023 mit Tunesien und im März 2024 mit Ägypten Deals zur Flüchtlingsabwehr schloss, tat sie das in intensiver Kooperation mit Meloni; Insider berichteten, das politische Arbeitsverhältnis zwischen beiden sei recht gut: Es war von einem „Giorgia-Pakt“ der Kommissionschefin die Rede. Im Februar äußerte von der Leyen sich explizit zu Koalitionsoptionen im künftigen Europaparlament. Sie erklärte, sie werde nur mit Parteien kooperieren, die „proeuropäisch“ seien, „den Rechtsstaat“ achteten und umfassend die Ukraine unterstützten. Das war eine Abgrenzung zur polnischen PiS und zum ungarischen Fidesz („Rechtsstaat“), aber nicht zu anderen ECR-Parteien, die — wie Melonis Fratelli d’Italia — sich auf Seiten der Ukraine und gegen Russland positioniert haben.
Wie weit die Koalitionsbereitschaft letztlich reichen wird, ist noch nicht abzusehen, und es hängt wohl auch vom konkreten Ergebnis der Europawahl ab. Schon jetzt kann man aber festhalten, dass es zumindest Bestrebungen gibt, den französischen RN in die Achsenpläne einzubeziehen. Anfang Februar gab der Europaabgeordnete Nicolas Bay bekannt, er sei soeben den ECR beigetreten. Bay kam aus dem RN, hatte Anfang 2022 im französischen Präsidentschaftswahlkampf noch als Pressesprecher von Marine Le Pen gearbeitet, schlug sich dann aber auf die Seite des ultrarechten Le Pen-Rivalen Éric Zemmour (Reconquête). War seine Aufnahme bei den ECR ein erster Schritt hin zu einer Einbeziehung des RN oder gar von Reconquête in die Achse ECR-EVP? Wie auch immer: Der cordon sanitaire, der in Europa einst die extreme Rechte ausgegrenzt hatte, kollabiert immer mehr — und das bald womöglich auch im Europaparlament, einer der Kerninstitutionen der EU.