„Kreuzzug gegen den eigenen Nachwuchs“
Der Streit über die JA überschattet den Parteitag der NRW-AfD
Für den Landesvorsitzenden Martin Vincentz hätte es so schön sein können. Von der schweren Schlappe bei der Landtagswahl 2022, als seine Partei nur mit mageren 5,4 Prozent ins Düsseldorfer Parlament zurückkehren konnte, zeigt sich die AfD erholt. Die Sonntagsfragen taxierten sie im einwohnerstärksten Bundesland zuletzt bei 13 bis 15 Prozent. Rekord! Die Mitgliederzahl — geschrumpft seit Ex-Bundeschef Jörg Meuthen den Konflikt mit großen Teilen seiner Basis suchte und der Verfassungsschutz genauer auf das Phänomen AfD zu schauen begann — war wieder gestiegen. Von unter 5.000 auf über 7.000 hat sie zugelegt. Rekord! Der Landesvorstand, der seit der Gründung der AfD ein Hort des Streits und der öffentlich werdenden Fehden gewesen war, arbeitete zwei Jahre lang geräuschlos. Ebenso rekordverdächtig!
Auch persönlich schien Vincentz den Durchbruch geschafft zu haben. Gestartet war er als Gesundheitspolitiker der Landtagsfraktion. Es war ein unscheinbarer Start. Wer kannte in den Jahren vor 2020 schon Gesundheitspolitiker:innen in Landesparlamenten? Corona änderte alles. Kaum ein anderer Politiker profitierte so sehr von der Pandemie wie er. In seiner Partei wurde man aufmerksam auf den Allgemeinmediziner aus Krefeld, der im Plenarsaal und bei Parteitagen relativ unfallfrei seine Reden hielt — weit unfallfreier jedenfalls als viele AfD’ler, die sich zuvor als Landesvorsitzende bemüht hatten.
Chamäleon der Macht
Im Februar 2022 wurde Vincentz erstmals an die Spitze der NRW-AfD gewählt. Inzwischen träumt er Medienberichten zufolge gar von weiteren Karriereschritten auf Bundesebene. Doch das will vorbereitet sein. Vincentz arbeitet daran — einerseits darum bemüht, öffentlich immer noch als „gemäßigt“ zu erscheinen, andererseits aber bereit, mit dem radikaleren Lager in der Partei gemeinsame Sache zu machen. Als 2021 ein Parteitag im sächsischen Riesa vorzeitig endete, ging es um einen Antrag, den unter anderem Vincentz und Björn Höcke eingebracht hatten. Als sich im Jahr darauf ein Parteitag in Magdeburg über das Europawahlprogramm stritt, ging es vor allem um dessen Präambel, für die wiederum unter anderem Höcke und Vincentz ihren eigenen Entwurf eingebracht hatten. Als ein paar Tage zuvor die Europa-Kandidatin Irmhild Boßdorf vor den Delegierten in Magdeburg ihre „neurechten“ Visionen aufblätterte und eine Rede ganz im Jargon der Identitären Bewegung (IB) hielt, war sie für ihren sicheren Listenplatz von Martin Vincentz vorgeschlagen worden.
Das alles macht Vincentz nicht zum Höcke- oder IB-Anhänger. Doch es zeigt, wie weit er zu gehen bereit ist, um die eigene Macht und den Einfluss seines Landesverbandes zu mehren. Daheim in NRW hat er es schließlich mit Erfolg vorgemacht. Als dort 2022 erstmals ein Vincentz-Vorstand das Ruder übernahm, war dafür ein auf den ersten Blick höchst disparates Bündnis zusammengekommen. Es dominierte jener Teil der angeblich „Gemäßigten“, der sich mit der bundesweiten Radikalisierung der AfD längst abgefunden hat.
Mit dabei waren aber auch Leute, die vormals den „Flügel“ in NRW gebildet hatten. Das Zweckbündnis richtete sich gegen zwei andere Gruppen: einerseits gegen den weniger flexiblen Teil der „Gemäßigten“, andererseits gegen die jungen Radikalen, die, wie etwa der Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich, im vorherigen Vorstand unter Rüdiger Lucassen enormen Einfluss hatten. Just jene jungen Radikalen störten Vincentz‘ Inszenierung beim diesjährigen Landesparteitag im Februar in Marl immens. Insbesondere die Junge Alternative (JA) — in der Partei bisher wahrgenommen als Chance zu einer optischen Verjüngung der AfD, als fleißiges Personalreservoir in Wahlkämpfen und bei der Vorbereitung von Veranstaltungen — ist mehr und mehr zur Belastung geworden. Geschuldet ist das vor allem ihrer nicht zu übersehenden Nähe zur IB oder extrem rechten Burschenschaften und nicht zuletzt der Einstufung der JA als „gesichert extremistische Bestrebung“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Mettmanner Distanzierungen
Einen Eilantrag der JA gegen diese Einstufung wies das Verwaltungsgericht Köln Anfang Februar ab. Die Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der AfD-Nachwuchsorganisation hätten sich „zur Gewissheit verdichtet“, befand das Gericht. Die Entscheidung rief die JA-Kritiker innerhalb der AfD auf den Plan. Am forschesten ging dabei der AfD-Kreisverband Mettmann ans Werk, dessen Vorstand gemeinsam mit dem Bezirksverband Düsseldorf eine „Mitgliederinformation“ zum Thema verbreitete. „Die AfD ist eine konservative Partei, welche auf parlamentarischem Weg versucht, die Politik in diesem Land zu verändern“, hieß es in der Stellungnahme. „Der politische Weg in und durch die Parlamente setzt klar voraus, dass man sich im rechtlich einwandfreien Rahmen bewegt.“ Daher sei es „für uns“ weder wünschenswert noch möglich, unhaltbare politische Positionen zu besetzen und dafür zu werben, so die „Mitgliederinformation“. Konkret: „Eine völkisch-ethnische Sichtweise ist einfach unhaltbar, da im Widerspruch zum Grundgesetz.“ Die Einstufung der JA als „gesicherte extremistische Bestrebung“ bedeute eine ernste Gefahr für den Fortbestand und die Handlungsfähigkeit der Partei, warnten die Autor:innen. Eine „kleine Gruppe von Mitgliedern“ habe sich „rechtsextreme Positionen zu Eigen gemacht“ und wolle „diese dem gesamten AfD-Landesverband überstülpen“.
Auch zur Frage, wie die AfD als „echte Volkspartei der bürgerlichen Mitte“ mit der JA umgehen sollte, hatte sich der Kreisvorstand Gedanken gemacht: „In jedem einzelnen Fall, in dem ein JA/AfD-Mitglied sich mit den von der JA geäußerten extremistischen Positionen solidarisiert, die Beschlüsse der Vorstände dazu ignoriert, sich öffentlich in diesem Sinne äußert, die gleichzeitige Mitgliedschaft in der Partei und in vom Verfassungsschutz beobachteten und als extremistisch eingestuften Vereinen propagiert und versucht, durch Desinformation der Mitglieder dieses extremistische Gedankengut in der AfD zu implementieren, ist es Aufgabe der Vorstände durch Beantragung entsprechender Parteiausschlussverfahren diese Mitglieder aus der AfD zu entfernen.“ Gleichzeitig empfahl die Mettmanner AfD „allen am politischen Erfolg der AfD ernsthaft interessierten Mitgliedern der JA in unseren Reihen, die JA jetzt umgehend zu verlassen“. Allerspätestens damit war es mit der Ruhe in der NRW-AfD vorbei. Weiter verschärft wurde der Konflikt, als der Landesvorstand kurz darauf beschloss, alle Zahlungen an die JA einzustellen und die für den Marler Parteitag vorgesehenen Helfer:innen aus den Reihen der JA wieder auszuladen.
Aus den Reihen von AfD und JA setzte es Protest. „Der Landesvorstand führt die AfD NRW durch seinen weinerlichen Distanzierungskurs in die bundespolitische Isolation. Langfristig erfolgreiche AfD-Landesverbände sind grundsätzlich und stabil“, ließ Helferich wissen. „Grundsätzlich und stabil“ — für seine Anhänger ist es die Metapher für Rechtsradikalität bei gleichzeitig ausbleibendem innerparteilichem Widerspruch. Die AfD als „echte Alternative oder CDU 2.0?“, fragte Helferich und träumte von einem „gegenhegemonialen Block“, gebildet mit „patriotischen und konservativen Vorfeldakteuren“, der „die Machtfrage stellen will, anstatt davon zu träumen, einmal Staatssekretär in einer CDU-geführten Regierung sein zu dürfen“.
„Interne Zersetzung“
„Wir stehen vor der Entscheidung, ob wir endlich selbstbewusste und standhafte Politik in NRW betreiben, oder ob der Landesverband als CDU 2.0 in seiner weichen Gefallsucht untergeht“, erklärte ganz im Helferich-Style auch Patrick Heinz, der stellvertretende JA-Vorsitzende in NRW. Seinen Mettmanner Parteifreunden attestierte er: „Sich als AfD-Funktionär auf die Einstufung des ,Verfassungsschutzes‘ zu stützen, um der JA nationalsozialistisches Gedankengut nachzusagen — sowie zu schlussfolgern, man solle bald alle JAler aus der Partei werfen — kann ich selbst wohlwollend nur als einen willentlichen Akt der internen Zersetzung werten.“ Für „vereinzelte machthungrige Amtsträger“ könne ein Ausschluss aller JA-Mitglieder womöglich irgendwie nachvollziehbar klingen, räumte Heinz ein. In der breiten Mitgliederbasis jedoch würden „solch abwegige Forderungen nie salonfähig sein“.
Wie dünn das Eis war, auf dem sich der Mettmanner Kreisverband, der Düsseldorfer Bezirksverband und in der Folge auch Vincentz‘ Landesvorstand bewegten, machte einer deutlich, der sich in der Vergangenheit nicht immer öffentlich geäußert hat, wenn es um innerparteiliche Auseinandersetzungen ging. Der Essener Europaabgeordnete Guido Reil setzte sich von den Distanzierungsversuchen ab: „Ich möchte mal daran erinnern, dass die Landesverbände Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und wahrscheinlich auch bald Brandenburg auch als gesichert rechtsextrem eingestuft sind. Sollen wir uns von denen auch trennen? Das sind unsere stärksten Landesverbände, das sind unsere Speerspitzen.“ Die AfD dürfe sich „nicht weiter vorführen lassen, und wir dürfen uns vor allen Dingen nicht spalten lassen“, forderte Reil. Was denen blühen könnte, die es gleichwohl auf eine solche „Spaltung“ absehen, deutete er ebenfalls an: „Das haben in der Vergangenheit schon viele versucht, auch viele Bundessprecher. Und alle sind damit gescheitert.“
Im österreichischen Onlineportal „Heimatkurier“ — ein Rundfunkjournalist bezeichnete es einst als „das Zentralorgan der IB im deutschsprachigen Raum“ — fanden die nordrhein-westfälischen JAler einen Für- und Lautsprecher. Der Vorstand des AfD-Kreisverband Mettmann verrate sich als „Steigbügelhalter der Schlapphüte“, hieß es dort. Vincentz mangele es angesichts seiner „Bekräftigungen der ,historischen deutschen Schuld‘“ und des „krampfhaften Betonens einer Brandmauer nach Rechts“ an „Standhaftigkeit und nötiger Überzeugung“. Sein Vorstand führe „einen Kreuzzug gegen den eigenen Nachwuchs“.
Parteitagsregie verhindert Debatte
Wenig überraschend war, dass Björn Höcke deutlich für die JA Partei ergriff — haben doch beide, das „Flügel“-Netzwerk und die Junge Alternative über die Jahre an der Radikalisierung der Partei geschraubt. Höcke warb für eine „unbedingte Solidarität“ mit der Jugendorganisation: „Alles, was in Richtung Abspaltung der JA geht, wird von mir den entschlossensten Widerstand erleben.“ Stützen und berufen konnten sich die Vincentz-Gegner auch auf den früheren AfD-Landeschef Rüdiger Lucassen. Er hatte gleich nach der Entscheidung des Kölner Gerichts einen „Aufruf zur Solidarität mit der Jungen Alternative in NRW“ verfasst und als Antrag zum Landesparteitag eingebracht. Unterstützt wurde der Aufruf unter anderem von seinem Bundestagskollegen Helferich, dem Europaabgeordneten Gunnar Beck und der Europakandidatin Boßdorf. „Die Antragsteller können nicht erkennen, dass unsere Jugendorganisation die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen oder gar beseitigen will. Ganz im Gegenteil, unsere JA setzt sich mit nicht nachlassendem Engagement und mutig dafür ein, freiheitlich-demokratischen Geist und rechtsstaatliches Denken mit Leben zu füllen. Das verdient unser aller Solidarität“, hieß es in der Antragsbegründung. Und im Text des Aufrufs: „Der Landesverband Nordrhein-Westfalen der Alternative für Deutschland lässt sich nicht zum Werkzeug von Regierungsbehörden machen, sondern steht geschlossen und solidarisch zu seiner Jugendorganisation, der Jungen Alternative Nordrhein-Westfalen. Die Mitglieder unserer Partei — aber besonders die Inhaber eines Parteiamtes — sind aufgerufen, sich schützend vor unsere Jugend und Nachwuchsorganisation zu stellen.“
Behandelt wurde der Antrag in Marl nicht mehr. Eine geschickte Parteitagsregie verhinderte, dass dafür ganz am Ende noch Zeit blieb. Vincentz entging damit der großen Blamage. Denn egal, ob Lucassens Solidaritätsaufruf beschlossen worden wäre oder nicht — deutlich geworden wäre in einer Debatte, dass der Kurs einer scharfen Konfrontation unter den Delegierten wohl kaum eine Mehrheit gefunden hätte. Nun beginnt hinter den Kulissen die Diskussion über die Frage, wie mit dem Risiko JA umzugehen ist. Neben einer Trennung von der JA bestünde die Möglichkeit, sie im Gegenteil sogar enger an die AfD anzubinden. Im Gespräch ist etwa, die JA, die derzeit rechtlich ein selbstständiger Verein ist, in der Satzung der Partei als deren integralen Teil festzuschreiben. Sie könnte damit, so die Erwartung mancher, einerseits leichter für die Partei zu kontrollieren sein, andererseits wäre sie auch nicht mehr so einfach zu verbieten.
Intimfeind Helferich
Vincentz wurde beim Parteitag mit 470 zu 130 Stimmen im Amt bestätigt (78,33 %). Gegen ihn kandidieren mochte niemand. Helferich, der sich zuvor diese Möglichkeit „vorbehalten“ hatte, trat nicht an, und auch in der Riege seiner Anhänger:innen fand sich niemand, der es mit dem Amtsinhaber aufnehmen wollte. So deutete viel auf einen Durchmarsch von Vincentz’ Lager hin. Doch rasch könnte Vincentz die Warnzeichen wahrgenommen haben. Sven Tritschler, der als Stellvertreter auf seiner Empfehlungsliste gestanden hatte, fiel mit 271 zu 356 Stimmen gegen Fabian Jacobi durch. Mit Klaus Esser setzte sich später zwar einer seiner anderen Vizekandidaten durch, doch er musste sich harter Gegenwehr durch Helferich-Freund Roger Beckamp erwehren, der immerhin 42 Prozent der Delegierten auf seine Seite ziehen konnte.
Richtig schmerzhaft für Vincentz aber wurde eine Beisitzerwahl für das zwölfköpfige Spitzengremium. Ausgerechnet sein parteiinterner Intimfeind Helferich setzte sich mit 353 zu 251 Stimmen (55,85 %) gegen die frühere Landtagsabgeordnete Iris Dworeck-Danielowski durch. Zielsicher hatte sich der Dortmunder Rechtsausleger für seine Kandidatur das schwächste Glied des Vincentzschen Personaltableaus ausgesucht. Bei zwei Parteitagen, 2022 in Siegen und 2024 in Marl, versuchte Vincentz, Helferich final auszubooten. Beide Male scheiterte er. Womit für eine Fortsetzung der Querelen im Landesverband gesorgt ist.