Kritische Theorie der extremen Rechten
Zugleich sind solchen Analogien durch den „Zeitkern der Wahrheit“, den Adorno und Max Horkheimer der „Dialektik der Aufklärung“ vorangestellt haben, aber auch Grenzen gesetzt: Kritische Theorie dürfe nicht zur Schablone werden, sondern müsse im Verhältnis zur gesellschaftlichen Situation aktualisiert werden.
Vor diesem Hintergrund muss der im Dezember 2023 erschienene Sammelband „Kritische Theorie der extremen Rechten. Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer & Co.“ gesehen werden, der in elf Beiträgen unterschiedliche Ausprägungen der extremen Rechten in den Blick nimmt und sich dabei im ja gar nicht so klar umrissenen Fundus der „Frankfurter Schule“ bedient. Aus Sicht der Autor*innen des Sammelbandes ist die jüngere Rezeption der Kritischen Theorie oft nur selektiv und zu stark auf individuelles Handeln fokussiert. Der eigene Anspruch ist, Gesellschaftstheorie in die Analyse der extremen Rechten einzubringen, woraus sich mitunter originelle Einsichten ergeben. So wirkt der rechte Influencer Heiko Schrang im Text von Sandra Rokahr wie ein Widergänger der „Falschen Propheten“, die 1949 von Leo Löwenthal und Norbert Gutterman in ihrer Studie zu faschistischer Demagogie beschrieben wurden. Auch wenn die Mechanismen sich ähneln, begegnen sich Schrang und sein Publikum vor veränderten gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen, die jeweils auch die individuelle Produktion und Rezeption von Propaganda beeinflussen. Überhaupt spielt die psychische Verarbeitung gesellschaftlicher Krisen und Zwänge in vielen Beiträgen eine zentrale Rolle. Helge Petersen und Alexander Struwe beschreiben dies rund um den Begriff des „Unbehagens“, Jan Weyand blickt aus dieser Perspektive auf die Empfänglichkeit für Verschwörungserzählungen.
Eine Stärke des Sammelbandes ist es, dass an vielen Stellen Texte der Kritischen Theorie für eine Auseinandersetzung mit der extremen Rechten herangezogen werden, die bisher nur verhältnismäßig wenig rezipiert wurden. Zu nennen wäre hier Adornos Text „Meinung Wahn Gesellschaft“ (1960), den Ulrike Marz auf die aktuelle Relevanz von „Meinung“ für extrem rechte Mobilisierungen bezieht. Spannend sind auch die Beiträge von Nikolai Schreiter und Jennifer Stevens. Schreiter blickt mit Hilfe der Figur des „jüdischen Kronzeugens“ unter anderem auf die „Juden in der AfD“ und zeigt deren projektiven Charakter auf. Und Stevens kommt in der Auseinandersetzung mit rechten Untergangsfantasien zu dem Schluss, dass dort „Erlösung“ nur in der „volkstümlichen Ewigkeit“ gesucht wird: „Die Volksgemeinschaft kennt keine Geschichte im Bewusstsein der Freiheit, denn diese stellt ihre größte Bedrohung dar.“ An diesen Stellen zeigen die Beiträge eine analytische Stärke, die man an vielen oft nur beschreibenden Modellen, zum Beispiel rund um das „Syndrom“ der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, vermisst.
Wer aber nach einer theoretischen Aktualisierung der Kritischen Theorie sucht, findet diese eher in der kurz zuvor veröffentlichten „Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung“ von Alexandra Schauer. Der von ihr sozialhistorisch rekonstruierte „Mensch ohne Welt“ scheint in vielen Punkten anschlussfähig für die im Sammelband präsenten sozialpsychologischen Erklärungsansätze. Inhaltliche Leerstellen ließen sich zudem bei den Themen Geschlechterverhältnisse und Antifeminismus benennen, grade weil diese immer stärker als Brückenköpfe zwischen völkischen und konservativen Milieus sichtbar werden. Dass hier auch mit der Kritischen Theorie Einsichten zu gewinnen sind, zeigten in den vergangenen Jahren die Arbeiten von Barbara Umrath. Nichtsdestotrotz ist der Sammelband lesenswert, bietet sowohl eine Grundlage für weitere theoretische Arbeiten als auch Orientierung im Dickicht immer neuer Begriffe und Analysen.
Leo Roepert (Hg.):
Kritische Theorie der extremen Rechten. Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer und Co.
transcript Verlag, Bielefeld 2023,
408 Seiten, 39 Euro.