
Deutschland, „normal“ autoritär und homogen
Zur Inszenierung der AfD in Thüringen
Ende Juni 2024 steht Björn Höcke vor seinem zweiten Prozess in Halle. Er muss sich erneut vor Gericht verantworten, weil er die verbotene NS-Parole „Alles für Deutschland“ verwendet haben soll. Zuvor wurde er bereits zu einer Geldstrafe von 13.000 Euro verurteilt. Kurz vor dem Prozess veröffentlichte die AfD ein Video mit einem Statement des Thüringer Landeschefs zum Prozess. Höcke sagt hier: „Wir haben Maulkorbparagraphen mittlerweile in diesem ‚ach so freien Deutschland‘ […] Dieser Zustand muss beendet werden und ich verspreche euch, wenn die AfD an der Regierung ist, dann werden diese politischen Schauprozesse aufgearbeitet werden, dann wird es wieder eine neutrale Justiz geben. […] Und wir dürfen uns jetzt nicht entmutigen lassen, wir müssen da jetzt durchgehen und wir werden da gemeinsam durchgehen.“ Am Ende des Prozesses stand eine erneute Verurteilung Höckes zu einer Geldstrafe von 16.900 Euro.
Adressierung vorhandener Einstellungen
Jenseits der Frage von Höckes Vorstellungen zu Gewaltenteilung und Justiz zeigt sich, wie die AfD in Thüringen versucht, jedes Ereignis an ihre Wähler*innen zu adressieren und dabei an vorhandene Einstellungen anzuknüpfen und diese gleichzeitig zu verstärken. Höcke inszeniert sich in dem Video nicht nur als Kämpfer gegen das „Establishment“ und die „politische Justiz“, er tut dies „gemeinsam“ mit den Adressat*innen. Oder besser: Er geht diesen Weg für sie. Passend dazu kopierte die AfD Thüringen eins zu eins ein Wahlplakat des ehemaligen FPÖ-Spitzenkandidaten Jörg Haider aus dem Jahr 1994, auf dem Haider lässig mit hinter dem Kopf verschränken Armen auf einem Stuhl sitzt. Zu lesen ist: „Sie sind gegen ihn, weil er für Euch ist. Einfach ehrlich, einfach Jörg.“ Lediglich den Namen „Jörg“ hat die AfD Thüringen gegen „Björn“ getauscht, sonst war die Kopie konsequent bis zur Pose übernommen.
Diese Inszenierung knüpft dabei gleich an mehrere Einstellungsmuster an, die weite Verbreitung in der Thüringer Bevölkerung finden. In Thüringen werden diese Einstellungen im „Thüringen-Monitor“ seit dem Jahr 2000 von der Universität Jena erfasst. 2023 stimmten 65 Prozent der Menschen im Freistaat der These „Die Herrschenden und Mächtigen in unserer Gesellschaft handeln gegen die Interessen der einfachen Bevölkerung“ zu. Diese Einstellungen sind die Grundlage für die Inszenierung der AfD als „Anti-Partei“ und Höcke vorneweg als die Symbolfigur für diesen Kampf. Gleichzeitig stimmen 54 Prozent der Befragten folgender Aussage zu: „Heutzutage kann man seine Meinung nicht frei äußern, weil man sonst Nachteile haben könnte“.
Inszenierung als „wahre demokratische Kraft“…
Eben jene Einstellungen greifen die AfD und ihr Vorfeld auf. Es geht um die Erzeugung einer Stimmung und von Gefühlen, die eine Inszenierung begünstigen, in der man sich im Kampf gegen eine Diktatur sieht. Diese Inszenierung ist nicht neu, sondern findet sich verstärkt schon seit 2015 rund um die rechten Kampagnen gegen die gestiegenen Geflüchtetenzahlen. Möchte man weiter zurückblicken, wird man auch in der vor einiger Zeit publizierten Rede von Theodor W. Adorno von Ende der 1960er Jahre fündig, in der er im Kontext des Aufstieges der NPD auf deren Inszenierung als „wahre Demokraten“ verwies. Im Kern geht es um die Delegitimierung des aktuellen demokratischen Regierungssystems und damit einhergehend die Legitimierung verschiedener Formen des Kampfes gegen das verhasste System. Damit ist die Diktatur-Erzählung eine der wichtigen Rahmenerzählungen, die sich bei der AfD und ihrem „Vorfeld“ in verschiedenen Ausprägungen finden und die vor allem einen Vorteil hat: Sie ermöglicht die Integration ganz unterschiedlicher antidemokratischer Milieus – von „Reichsbürgern“ über die Pandemie-Leugner*innen-Szene bis zur Neonazi-Szene. Die große Offenheit der Slogans und Inszenierungen lässt für die Wähler*innen der AfD möglichst große Interpretations-Spielräume, um so ihre eigenen Sichtweisen zu projizieren.
… im Kampf gegen das Unrechtsregime
Mal ist es ein Vergleich mit Bezügen zum historischen Nationalsozialismus, mal eine Gleichsetzung der Bundesrepublik mit der DDR. Die Erzählungen eint, dass man sich im Kampf gegen ein irgendwie geartetes „Unrechtsregime“ wähnt, welches diktatorische Züge angenommen habe, und man „JETZT“ etwas tun müsse. Treffend wird diese Tendenz von Volker Weiß zusammengefasst, der eine Publikation zur „Neuen Rechten“ mit „Autoritäre Revolte“ überschrieb. Diese Einschätzung lässt sich auch mit den Ergebnissen des „Thüringen-Monitors“ unterlegen. So stimmten 65 Prozent der Befragten der Einschätzung zu, „[e]s ist Zeit, Widerstand gegen die aktuelle Politik zu leisten“. Gleichzeitig erhält die These, man brauche in diesen Zeiten „unbedingt eine starke Hand“, 60 Prozent Zustimmung. Und 45 Prozent der Befragten votierten, dass man seine Kinder zu „anständigen Bürgern“ erziehen solle und dies vor allem das Abverlangen von „Gehorsam und Disziplin“ bedeute.
Maßgeblich die Zeit der Corona-Pandemie wirkte wie ein Radikalisierungsbeschleuniger auf viele Menschen und verstärkte diese Erzählungen weiter. Dies hallt bis heute deutlich in weiten Teilen der Bevölkerung nach und führte insgesamt auch zu einer weiteren Stärkung der AfD und ihres Umfeldes. Wenn auch der herbeigesehnte und prognostizierte Umsturz während der Corona-Krise ausblieb.
DDR als Referenz der Delegitimierung…
Die DDR-Erzählung ist in den neuen Bundesländern wirkmächtiger und ambivalenter als im Westen der Republik. In Ostdeutschland dienen die Erinnerungen an die DDR-Zeit quasi als unterschiedliche Deutungsmuster: zum einen als Delegitimierung der Bundesrepublik mit Bezug zur Verfolgung politischer Gegner*innen in der DDR. Die DDR war in dieser Erzählung ein System, das es zu überwinden galt. So versucht die AfD, auch in Thüringen an die Traditionen der DDR-Bürgerrechtsbewegung anzuknüpfen. In den letzten Jahren waren immer wieder Formulierungen auf Wahlplakaten zu lesen, die eben jene Erzählung aufgriffen. Beispielsweise „Vollende die Wende“ oder „Wir sind das Volk“. Die AfD und ihr Umfeld werden in der eigenen Inszenierung quasi zu den Oppositionellen der DDR-Zeit. Gleichzeitig versucht die Partei, die DDR oder vielleicht besser ostdeutsche Identität mit DDR-Bezug aufzugreifen, um damit Politik zu machen. Der aus Nordrhein-Westfalen zugewanderte Höcke ließ sich beispielsweise 2022 auf einer ländlichen Straße Simson-fahrend ablichten. Zu lesen war auf dem Bild: „Wir lassen uns von den Grünen den Spass [sic] nicht verbieten!“
…und Sehnsuchtsort
Wenngleich absurd, so stellt diese Inszenierung den Versuch dar, an einen Teil des Erbes der DDR und eine ostdeutsche Identität anzuschließen, die den Einstellungen in der Bevölkerung entsprechen: Der „Thüringen-Monitor“ erfasst für das vergangene Jahr 43 Prozent Zustimmung zur These: „Die DDR hatte mehr gute als schlechte Seiten“. Diese Erzählung ist nichts anderes als die Rückkehr zu einem idealisierten und erinnerten Ideal-Konstrukt eines „früher war alles besser“-Deutschlands. Eine übersichtlichere Welt, die auch am Beispiel der DDR ihren Ankerpunkt findet: Keine „Masseneinwanderung“, klare Geschlechterbilder und die „Wertschätzung“ des „deutschen Arbeiters“ – um nur ein paar Linien dieser positiven Bezugnahme zu benennen. In der extremen Rechten gipfelt dies dann in die Aufrufe, in „den Osten“ – vor allem die ländlichen Räume – zu ziehen, wo die Zahl an Migrantinnen und Migranten niedriger sei und die Leute noch „normale Einstellungen“ hätten. „Deutschland. Aber normal.“, formulierte es die AfD in einer Kampagne, was nicht zuletzt auf jene Erzählungen Bezug nimmt. Die DDR als Sehnsuchtsort übersetzt sich somit vor allem in den Wunsch nach Übersichtlichkeit und Simplifizierung in einer immer komplexer erscheinenden Welt.
In Krisenzeiten verloren für die Demokratie?
Der Aufstieg der AfD ist natürlich nicht ohne die weltweiten politischen Kontexte zu erklären, welche aufgrund einer globalisierten Welt und auch der medialen Berichterstattung der Geschehnisse deutlich präsenter sind. Die letzten Jahre waren vor allem durch mannigfaltige Krisenerscheinungen geprägt: von Bankenkrise über gestiegene Flüchtlingszahlen bis hin zu Kriegsausbrüchen und der Verteuerung der Lebenshaltungskosten. Wie eklatant diese (kapitalistischen) Krisenerscheinungen tatsächlich für die Bevölkerung waren, dürfte dabei eine untergeordnete Rolle spielen. Zentral ist die Wahrnehmung einer durch Krisen dominierten Situation, welche auch Unsicherheiten und Abstiegsängste befördert. Mit diesen Themen wurde auch der AfD-Vertreter Robert Sesselmann zum Landrat des Kreises Sonneberg gewählt, obwohl sich die politischen Lösungen außerhalb seines Einflussbereichs bewegen.
Besonders in den neuen Bundesländern sind diese Ängste aufgrund geringerer Löhne und geringerer finanzieller Absicherungen deutlicher ausgeprägt. Hinzu kommt – auch durch die Digitalisierung – eine Phase enormer Modernisierungsschübe, die für einen Teil der Bevölkerung zum Gefühl des Abgehängtseins führt. Hier erleben wir – ähnlich wie bereits in den USA vor einigen Jahren – eine Gleichzeitigkeit der Entwicklungen: Zum einen rücken – wenn auch nur langsam – immer mehr Menschen aus marginalisierten Gruppen (beispielsweise Migranttinnen und Vertreterinnen der LGBTQ-Community) in die Öffentlichkeit, zum anderen erzeugt dies eine gesellschaftspolitische Gegenbewegung und führte außerdem zum elektoralen Erstarken der extremen Rechten.
Wechselndes Wähler*innenpotential
In Thüringen gab es schon immer ein extrem rechtes Wähler*innen-Potential, welches aber durch die Entstehung der AfD erstmals nahezu ausgeschöpft werden konnte. Nimmt man als Grundlage für eine Einschätzung den „Thüringen-Monitor“, so schwankte das Potential extrem rechts Eingestellter in den vergangenen 23 Jahren zwischen elf und 30 Prozent. Diese starken Schwankungen zeigen den großen Einfluss gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Sie deuten aber eben auch darauf hin, dass Menschen für den demokratischen Diskurs, die Demokratie, zurückgewonnen werden können. Besonders extrem rechte und rechtspopulistische Parteien unterliegen in ihren Wahlergebnissen deutlich höheren Schwankungen als andere Parteien.
Somit hängt ihre weitere Entwicklung damit zusammen, wie sich in den kommenden Jahren die Rahmenbedingungen ändern und ob als Krisen wahrgenommene Erscheinungen enden. Ein Teil der AfD-Wähler*innenklientel, besonders auch jener Teil, der durch Verschwörungserzählungen tief in der extrem rechten Echo-Kammer gefangen ist, wird allerdings schwer zurückzugewinnen sein. Wir werden bei der AfD kein schnelles Verschwinden erleben, wie dies nach den Mobilisierungsphasen der NPD, der DVU oder der Partei Die Republikaner in der Vergangenheit zu sehen war.