PM Cheung

„Kapitalismus am Limit“

Im Gespräch mit Prof. Dr. Markus Wissen

Lange Zeit konnte der Kapitalismus auf die von ihm verursachten sozialen und ökologischen Krisen mit räumlichen und zeitlichen Verlagerungen reagieren. Angesichts des Klimawandels gerät diese Tendenz und damit der Kapitalismus selbst ans Limit. Ulrich Brandt und Markus Wissen argumentieren in ihrem neuen Buch gegen die Vorstellungen eines „grünen Wachstums“ unter kapitalistischen Verhältnissen.

In eurem neuen Buch diagnostiziert ihr einen Kapitalismus am Limit und seht auch nicht in einem „Great Reset“ oder „Green New Deal“ die Möglichkeit zur Überwindung der Klimakatastrophe. Was sind eure Hauptgründe dafür?

Die kapitalistische Ökonomie war schon immer krisenhaft, in dem Sinne, dass sie systematisch dazu tendiert, ihre eigenen sozialen und ökologischen Voraussetzungen zu untergraben. Allerdings, so könnte man zugespitzt sagen, war das für ihre Reproduktion so lange kein Problem, wie die Möglichkeit bestand, Krisen räumlich und zeitlich zu verlagern: auf den globalen Süden, auf unbezahlte Reproduktionsarbeit auch im globalen Norden, auf künftige Generationen. Die kapitalistische Ökonomie reproduziert sich nicht aus sich selbst heraus. Sie bedarf vielmehr eines nicht-ökonomischen Außen, das sie sich aneignen und auf das sie ihre Kosten verlagern kann. Das ist ein höchst widersprüchliches Verhältnis, denn einerseits ist die kapitalistische Ökonomie darauf angewiesen, sich das Außen anzueignen, andererseits tendiert sie dazu, es auf dem Weg der Aneignung zu zerstören. Dieses Problem verschärft sich mit der kapitalistischen Entwicklung von Ländern wie China. Mit ihr wird das Außen zunehmend umkämpft – wir sprechen in unserem Buch von wachsenden „öko-imperialen Spannungen“.

Heute zeichnet sich ab, dass die Zerstörung des Außen so weit fortgeschritten ist, dass das negativ auf die kapitalistische Ökonomie selbst zurückschlägt: Die ökologische Krise bricht zunehmend katastrophisch in Gesellschaft und Ökonomie ein, Lieferketten werden unterbrochen, Infrastrukturen zerstört, Ereignisse wie Dürren, Überschwemmungen oder Waldbrände verursachen nicht nur unvorstellbares menschliches Leid, sondern auch enorme ökonomische Kosten. Dazu kommen andere Krisensymptome wie die allgegenwärtige Erschöpfung. Sie verweist auf eine Krise der sozialen Reproduktion und damit auch der Reproduktion der Arbeitskraft, auf deren Ausbeutung die kapitalistische Ökonomie beruht. Perspektivisch wird das die liberale Demokratie als die mit dem Kapitalismus lange Zeit kompatible politische Form vor große Legitimationsprobleme stellen. Ein grüner Kapitalismus wird daran nichts Grundlegendes ändern. Er kann zwar zu punktuellen Verbesserungen führen, wie dem Übergang von einem fossilen Energieregime zu einem, das auf erneuerbaren Energien beruht. Allerdings werden die ökologischen Erfolge durch die Wachstumsdynamik, der sich auch ein grüner Kapitalismus nicht entziehen kann, überkompensiert. Die Folge ist, dass der Naturverbrauch dann doch steigt oder zumindest nicht in dem Maße und in der Geschwindigkeit zurückgeht, die nötig wären, um die ökologische Krise in bearbeitbaren Grenzen zu halten.

Warum ist Kapitalismuskritik eurer Meinung nach so wesentlich zur Verhinderung der Klimakatastrophe?

In einer Zeit, in der die Welt auf die Klimakatastrophe zurast, kann Kapitalismuskritik als eine Art Notbremse wirken. Sie zeigt die Mechanismen auf, die der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zugrunde liegen, und bewahrt damit vor Illusionen, etwa solchen eines „grünen Wachstums“. Gleichzeitig darf sich aber auch die Kapitalismuskritik keinen Illusionen hingeben. Sie ist sowohl gesellschaftlich als auch akademisch marginal. Um praktisch zu werden, bedarf sie der organischen Verbindung mit progressiven sozialen Bewegungen. Die gibt es zwar durchaus – siehe etwa die Vergesellschaftungsbewegung und ihre organischen Intellektuellen –, aber noch sind sie weit davon entfernt, über punktuelle Erfolge hinaus gesellschaftlich mehrheitsfähig zu werden. Dazu kommt der starke Gegenwind von rechts, gegen den wir derzeit ankämpfen.

Warum setzt ihr auf „Degrowth-Politiken“ und nicht auf gesellschaftlich nutzbare Mittel zur Steigerung der Produktivkräfte unter veränderten Produktionsverhältnissen, wie etwa sozialistische Planwirtschaft oder den Einsatz von KI für eine sinnvolle Ressourcenwirtschaft?

Degrowth bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als Produktion und Konsum auf ein global gerechtes und ökologisch nachhaltiges Niveau zu senken. Das Konzept verbindet also die soziale mit der ökologischen Frage. Und das ist nicht nur auf einer normativen Ebene wichtig, auf der es um die Gerechtigkeit innerhalb der und zwischen den Generationen sowie im Verhältnis zwischen Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen geht. Es ist auch nötig, um Mehrheiten für die sozial-ökologische Transformation zu schaffen. Das schließt Planung unter Einsatz von KI gar nicht aus. Im Gegenteil: Degrowth bedarf der demokratischen Planung. Und Planung profitiert von KI, um das Informationsproblem zu lösen, das in kapitalistischen Ökonomien mittels des Preismechanismus bearbeitet wird. Die Steigerung der Produktivkräfte muss man differenziert betrachten. Generell gilt, dass die Produktivkräfte bereits ein Entwicklungsniveau erreicht haben, das allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen könnte. Auch unter nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnissen müssten sie also nicht notwendigerweise weiter gesteigert werden. Dies gilt auch deshalb, weil ein Zuwachs an Arbeitsproduktivität immer auch bedeutet, dass menschliche oder auch tierische Arbeit durch fossile Energie und ressourcenintensive Maschinen ersetzt wird. Das hat enorme Wohlstandssteigerungen ermöglicht, die aber höchst ungleich verteilt sind und zudem zu Lasten der Natur gehen.

Dazu kommt, dass die Produktivität nicht selten bei solchen Tätigkeiten gesteigert wird, die sinnlos oder sozial-ökologisch schädlich sind, mit denen sich aber dennoch hohe Profite erwirtschaften lassen. Niemand braucht Produktivitätssteigerungen in der Herstellung von Sportwagen, SUVs, Landminen oder Yachten. In solchen Bereichen wäre die Technologieentwicklung zu stoppen und der Produktionsapparat zurückzubauen. Sofern es sich – um eine Unterscheidung von André Gorz zu verwenden – um „offene“ Produktionstechnologien handelt, die im Gegensatz zu „verriegelten“ Technologien auch für die Herstellung gesellschaftlich sinnvoller Dinge eingesetzt werden können, die die Kooperation stärken, anstatt Menschen zu unterwerfen, wäre auch die Produktkonversion eine mögliche Option. Damit könnten sinnvolle Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden, das Wissen der Arbeiter*innen und der Ingenieur*innen würde in den Dienst einer gesellschaftlich sinnvollen Produktion statt in den der Profitmaximierung gestellt. Darum kämpft heute etwa das Fabrikkollektiv einer ehemaligen Niederlassung des Automobilzulieferers GKN in Campi Bisenzio bei Florenz. Die Beschäftigten haben sich der Schließung ihres Unternehmens widersetzt und wollen die Produktion nun auf Lastenfahrräder und Solarmodule umstellen.

Generell würde in einer Degrowth-Gesellschaft über eine Technologieentwicklung zugunsten von Produktivitätssteigerungen demokratisch entschieden, statt sie dem Markt zu überlassen. Sie würde etwa solche Tätigkeiten erleichtern oder ganz erübrigen, die zwar gesellschaftlich reproduktionsnotwendig sind, die für diejenigen, die sie ausüben, aber mit starken physischen und psychischen Belastungen einhergehen. In vielen Bereichen, vor allem in den personenbezogenen Dienstleistungen, wäre der Produktivitätsdruck, der auch deren neoliberaler Durchdringung geschuldet ist, im Interesse der Beschäftigten und der Menschen, die etwa der Pflege bedürfen, sogar zu reduzieren.

Rechte Kräfte, die den Klimawandel leugnen und ein „Weiter-so“ im Kapitalismus versprechen, sind zuletzt gestärkt worden. In eurem Buch widmet ihr über 30 Seiten den autoritären Politiken in Europa. Seht ihr eure Befürchtungen durch die aktuelle Entwicklung bestätigt?

Ja, leider. Und es steht zu befürchten, dass sich diese Entwicklung bei den anstehenden Landtagswahlen, bei der Bundestagswahl oder bei der US-Präsidentschaftswahl fortsetzt. Die Attraktivität der autoritären Rechten gründet in den (klassenübergreifenden) Angeboten, die sie in Zeiten von zwei zentralen Verunsicherungen machen. Die erste ist die neoliberale Verunsicherung: die zunehmende soziale Polarisierung, die realen oder wahrgenommenen Verlust- und Abstiegserfahrungen. Die radikaldemokratische Linke befindet sich in einer Krise, die Sozialdemokratie hat sich von der Klassenfrage verabschiedet und diese durch ihre Politik gleichzeitig verschärft. Die Konsequenz ist, dass Klassenerfahrungen keine einigermaßen progressive politische Ausdrucksform mehr finden, obwohl sie den Alltag von immer mehr Menschen prägen, sichtbar etwa an Phänomenen wie Prekarisierung, Missachtung oder einer durch ständige Unternehmens-Restrukturierungen auf Dauer gestellten Unsicherheit.

Die Rechte weiß das zu nutzen – nicht, indem sie Klassenfragen als solche, also als ein Problem zwischen Oben und Unten und ein Strukturmerkmal kapitalistischer Gesellschaften, politisiert, sondern indem sie sie in einen Innen-Außen-Gegensatz übersetzt und der Krise mit exklusiver Solidarität begegnet. Diese richtet sich vor allem gegen Asylsuchende und Migrant*innen, aber auch gegen weitere Gruppen von „Anderen“, die von einer „woken“ liberalen Politik angeblich bevorzugt werden: vor allem gegen Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung die vorherrschende Heteronormativität in Frage stellen, oder gegen die feministische Bewegung, die die männliche Dominanz in der Arbeitswelt, in der Politik und im Alltag erschüttert hat. Das ist die zweite Verunsicherung, die von der autoritären Rechten regressiv politisiert wird: die identitätspolitische Verunsicherung in Bezug auf Geschlecht und Weiß-Sein, also die Erschütterung traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit, von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterverhältnissen, von neokolonial und rassistisch motivierten Unterscheidungen. Indem sie diese Verunsicherungen regressiv politisiert, das hat die Soziologin Arlie Hochschild überzeugend gezeigt, bedient die autoritäre Rechte die emotionalen Interessen einer weißen, vor allem männlichen Klientel, und zwar klassenübergreifend. Sie kompensiert damit die Tatsache, dass sie selbst meist einen autoritären Neoliberalismus vertritt, der den materiellen Interessen von großen Teilen ihrer Klientel diametral entgegensteht.

Die ökologische Krise bzw. die Art und Weise ihrer Bearbeitung überlagert und dynamisiert beide Verunsicherungen: Eine marktförmige Krisenbearbeitung und ungleiche Verteilung der Kosten der ökologischen Krise drohen die gesellschaftliche Ungleichheit zu verschärfen – „Die Reichen kaufen sich Elektro-SUVs von Tesla, den Armen, die sich das nicht leisten können, wird das Fahren mit dem kleinen Verbrenner verteuert.“ Mit dem Angriff auf den Verbrennungsmotor wird die damit eng verknüpfte hegemoniale Männlichkeit, die „Petromaskulinität“, wie die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett das treffend nennt, in Frage gestellt. In der Verteidigung der Petromaskulinität verdichtet sich gleichsam die regressive Politisierung der beiden Verunsicherungen: Petromaskulinität ist zugleich antiökologisch, antifeministisch und rassistisch.

Eine große Gefahr seht ihr in der Anschlussfähigkeit autoritärer Politiken für konservative Parteien. Genau dies versucht nun Le Pen im Bündnis mit Meloni. Seht ihr ein konservativ-autoritäres Politikmodell am Horizont für Europa?

Die Gefahr besteht zweifellos. Wir argumentieren in unserem Buch, dass sich die institutionellen und Legitimationspotenziale der liberalen Demokratie erschöpft haben. In einem liberaldemokratischen Rahmen lässt sich die komplexe Krise, mit der wir heute konfrontiert sind, kaum mehr bearbeiten. Eine wirksame Krisenbearbeitung würde die Begrenzung eben jener auf Kosten anderer gehenden Freiheits- und Eigentumsrechte erfordern, deren Schutz gerade den Kern der liberalen Demokratie bildet. Das heißt, es ginge um eine Verunmöglichung der Verursachung und Externalisierung sozial-ökologischer Kosten: um ein Verbot von Privatjets, eine Einschränkung des Luftverkehrs, den Rückbau der Autoindustrie, die Reduzierung der industriellen Fleischproduktion etc. Dazu müsste die liberale Demokratie demokratisiert, in einer radikalen Demokratie aufgehoben werden. Was wir derzeit beobachten, ist aber das genaue Gegenteil: In einer Zeit, in der die liberale Demokratie an ihre Grenzen gerät, erstarken solche Kräfte, die nicht über sie hinaus-, sondern hinter sie zurückgehen wollen. Die autoritäre Rechte bildet die Avantgarde dieser Kräfte. Als solche treibt sie die bürgerlichen Parteien vor sich her, die sich selbst zunehmend autoritär geben – siehe die Abschottung der EU gegenüber Geflüchteten oder die Kriminalisierung von Klimaprotest bei gleichzeitiger Tolerierung von klimapolitisch fatalen Gesetzesbrüchen seitens des Bundesverkehrsministers. Ein rechts-autoritär-konservatives Projekt, das einen an seine Grenzen geratenen Kapitalismus autoritär, exklusiv und exkludierend zu stabilisieren versucht, ist also durchaus eine realistische Option.

Euer Buch soll Teil einer angekündigten Trilogie sein. Mit „Imperialer Lebensweise“ haben Ulrich Brand und du einen Bestseller vorgelegt, dem nun „Kapitalismus am Limit“ folgte. Ein dritter Band wurde von euch angekündigt, in dem ihr euch mehr mit Gegenstrategien beschäftigen wollt. Wann können wir mit dessen Erscheinen rechnen und welche Zielrichtungen sind da zu erwarten?

Die „Imperiale Lebensweise“ war stark hegemonietheoretisch orientiert, „Kapitalismus am Limit“ eher zeitdiagnostisch. Der dritte Band soll eine politisch-strategische Ausrichtung haben. Faktisch finden sich natürlich in jedem Buch alle drei Orientierungen, aber eben mit den genannten Schwerpunktsetzungen. Als linke Wissenschaftler*innen in privilegierten Professoren-Positionen sehen wir es als unsere Aufgabe an, zur Orientierung progressiver sozialer Kämpfe beizutragen, als deren Teil wir uns selbst sehen. Wir möchten unsere eigene Empörung über den Zustand der Welt und über die herrschenden Verhältnisse, die so unermesslich viel Leid und Zerstörung verursachen, in Begriffe und Diagnosen fassen, die diese Verhältnisse zu überwinden helfen. Über die Grundzüge des neuen Buchs müssen wir uns noch verständigen. Die Abgabe des letzten Manuskripts liegt ja noch nicht lange zurück. Und bis zum Beginn der Arbeit am nächsten braucht man immer ein bisschen Abstand, eine Reflexionspause. Aber wir sind guten Mutes, dass dieses Mal nicht wieder sieben Jahre vergehen, bis der nächste Band erscheint.

Vielen Dank für das Interview!

Buchtipp:

Ulrich Brand, Markus Wissen: Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven. Oekom-Verlag 2024, 304 Seiten, 24 Euro.

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