Rechte Trommler und die Großmutter der Radikalen
Die EU-Abgeordneten der AfD aus NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz
Es gibt Leute in der AfD, die Hans Neuhoff nicht mögen und kurz und knackig formulieren, er sei in erster Linie Opportunist. Wer ist dieser Neuhoff? An der Violine und an der Tabla, einem Schlaginstrument der nordindischen Musik, hat er sich ausbilden lassen. Seit zwei Jahrzehnten lehrt er an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln als Professor für Soziologie und Psychologie der Musik. 2017 verfiel er auf die Idee, in der AfD Politik machen zu sollen. Der Partei war er höchst willkommen – hatten doch die Professoren die einstige Professorenpartei längst in Scharen verlassen.
Als Leiter von Fachausschüssen und der Programmkommission in NRW (über)beanspruchte er fortan die Geduld jener AfD-Mitglieder, die im Grunde ihres Herzens des akademischen Jargons überdrüssig waren, weil sie rechtsradikalen Klartext bevorzugten. Es waren keine guten Zeiten für sein parteipolitisches Vorankommen. Nichts war es mit Bundes- oder Landtag.
Dass Neuhoff schließlich auf dem Ticket eines Parteirechten zu reisen begann, bescherte ihm endlich mehr Erfolg. Beim Institut für Staatspolitik (Ifs) referierte er; auch bei einer Veranstaltung der Sezession stand er am Mikrofon. Gemeinsam unter anderem mit Björn Höcke verfasste er jenen Antrag, der vor zwei Jahren im sächsischen Riesa einen AfD-Bundesparteitag zum Platzen brachte. Dass ihn die Parteitags-Delegierten vor einem Jahr auf die Liste für die Europawahl setzten, war Lohn der Mühen. Björn Höcke & Götz Kubitschek hatten ihn in ihr Herz geschlossen.
Neue Feinde
Doch Neuhoff häutete sich ein weiteres Mal. Absehbar war, dass sein Listenplatz 8 für das Mandat in Brüssel allemal reichen würde, unabhängig davon, wie gut oder schlecht die AfD am Wahltag abschneiden würde. Vom radikalisierten Professor mutierte er zurück zum „Moderaten“. Gründe dafür mag es aus seiner Sicht einige geben. Individuell etwa ist es naheliegend, den „Gemäßigteren“ zu geben – schließlich ist das Land NRW Träger seiner Hochschule, was die Frage aufwerfen könnte, wie verfassungsfest das ist, was ihr Arbeitnehmer Neuhoff sagt und mit wem und wo er auftritt. Disziplinarverfahren – man kennt es spätestens von zwei früheren AfD-Bundestagsabgeordneten, dem sächsischen Richter Jens Maier und dem badischen Staatsanwalt Thomas Seitz – drohen an jeder Ecke.
Und so ist Neuhoff nun dabei, sich ganz weit rechtsaußen in der Rechtsaußenpartei und in ihrem „Vorfeld“ neue Feinde zu machen. Dort stößt beispielsweise jene Aussage Neuhoffs sauer auf, die der Bonner General-Anzeiger im Januar wiedergab. Angesprochen auf seinen Auftritt beim IfS erklärte Neuhoff demnach: Das sei gewesen, bevor der Verfassungsschutz das „Institut“ zum „rechtsextremen Verdachtsfall“ erklärt habe. Neuhoff weiter: „Sonst hätte ich die Einladung nicht angenommen.“ Kritik der radikalsten Teile der Partei erntet Neuhoff auch, weil er es war, der kurz vor der Europawahl ein Parteiausschlussverfahren gegen den Dortmunder Rechtsaußen-Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich in Gang brachte und am Tag nach der Wahl den Antrag stellte, den Spitzenkandidaten Maximilian Krah gar nicht erst in der EU-Delegation der AfD aufzunehmen.
Unterstützung in Sachen Krah-Rauswurf fand Neuhoff bei der hessischen Abgeordneten Christine Anderson. Auch sie wandert zwischen den rechtsradikalen Welten der AfD. Mal organisierte sie den „Flügel“ im scheinbar „Flügel“-feindlichen Umfeld der Hessen-AfD, mal gab sie die „Gemäßigte“ in der früheren EU-Delegation, deren letzte Leiterin sie gegen den Willen der Parteispitze sogar war. Beim AfD-Bundesparteitag vor einem Jahr in Magdeburg war wieder Radikalität gefragt. Ohne die wäre es nichts gewesen mit einer erneuten Kandidatur; die Stimmung war so. Entsprechend lieferte sie. Europa solle mithilfe der EU „in ein unter totalitärer Herrschaft stehendes Kollektiv überführt werden“, wetterte sie. Die „Entrechtung aller Völker dieser Erde“ schreite voran. „Dexit, jetzt gleich und sofort!“, forderte sie, ahnend, was die Delegierten erwarteten. Ein Wahlergebnis von 83,8 Prozent war der Lohn.
„Deutschland zuerst!“
Zwei andere Neu-Abgeordnete aus NRW und Rheinland-Pfalz mochten sich – nach allem, was man aus der AfD hört – nicht recht entscheiden, als es um Krahs Rauswurf ging. Jedenfalls sollen sie sich in der entscheidenden Abstimmung enthalten haben. Der eine ist Alexander Jungbluth aus einer kleinen Gemeinde im Landkreis Mainz-Bingen. „Wir wollen ein Europa der kulturellen Vielfalt, in dem Jahrhunderte alte Sitten, Traditionen und Bräuche nicht geopfert werden für einen Multikulti-Schmelztiegel“, hatte Jungbluth, der seit seinen Studientagen Mitglied der Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks zu Bonn ist, den Delegierten in Magdeburg zugerufen.
Massiv profitierte er von den Vorabsprachen für eine Kandidat:innenliste, vorangetrieben unter anderem von seinem rheinland-pfälzischen Landsmann Sebastian Münzenmaier. Sie sahen nicht nur einen ungefähren regionalen Proporz vor, sondern berücksichtigten auch, dass die Kandidat:innen nicht komplett ahnungslos sind auf potenziellen Arbeitsfeldern der EU. Volkswirt Jungbluth also soll künftig Finanz- und Haushaltspolitik abdecken. Auch das lässt sich perfekt in eine Parteitagsrede für ein radikalisiertes Delegiertenpublikum kleiden: „Ich stehe zu dem Ausdruck ,Deutschland zuerst!‘, und das bedeutet für mich, dass wir nicht Zahlmeister für alles und jeden sind.“ 75,4 Prozent der Delegierten waren von ihm begeistert. Am letzten Wochenende im Juni machte er beim Bundesparteitag der AfD in Essen den nächsten parteiinternen Karriereschritt. Erneut gefördert von Münzenmaier, bei dem er zuvor auch angestellt war, wählten ihn die Delegierten in den Bundesvorstand.
Auf 75,6 Prozent war Irmhild Boßdorf (57) bei ihrer Nominierung gekommen. In kaum einer Rede und kaum einem Interview vergisst sie den Hinweis unterzubringen, dass sie fünffache Mutter und schon vierfache Großmutter ist. Entsprechend soll das, was sie „Familienpolitik“ nennt, einer ihrer Schwerpunkte in Brüssel und Straßburg sein. Eng sind ihre Kontakte zum Rechtsaußen-Lager der AfD. Beim Nominierungsparteitag hatte sie „Identitären“-Sound pur geliefert: „Was wir wirklich fürchten müssen, ist nicht der menschengemachte Klimawandel. Nein, wir sollten uns vielmehr fürchten vor dem menschengemachten Bevölkerungswandel, der das alte Europa in eine Siedlungsregion für Millionen Afrikaner und Araber umwandeln soll.“ Pushbacks, „egal was der Europäische Gerichtshof dazu sagt“, hatte sie gefordert und eine „millionenfache Remigration“ – lange bevor Correctiv-Berichte Schlagzeilen machten.
NRW: 12,6 Prozent
Martin Vincentz war zufrieden. Der AfD-Chef in Nordrhein-Westfalen, momentan damit beschäftigt, die Landespartei von allem zu säubern, was dem „gemäßigt“ erscheinenden Image entgegenstehen könnte, verwies darauf, dass die NRW-AfD „trotz widrigster Umstände“ im Vergleich zu den anderen Parteien am meisten hinzugewonnen habe: „Auch unser Kurs in NRW trägt Früchte.“ 12,6 Prozent holte die AfD landesweit, 4,1 Prozentpunkte mehr als bei der Europawahl 2019 und 7,4 Punkte mehr als bei der Landtagswahl vor zwei Jahren. 1,05 Millionen Menschen machten ihr Kreuz bei der AfD. Drei Hochburgen sind schon von früheren Wahlen bekannt: das nördliche Ruhrgebiet, von Duisburg im Westen bis Hamm im Osten. Gelsenkirchen (21,7 %) und Herne (18,0 %) verzeichneten die höchsten Werte. Zweiter Schwerpunkt war ein Streifen, der sich von Hagen (17,6 %) über den Märkischen Kreis (17,0 %) bis ins Oberbergische (16,2 %) zieht. Wie schon bei vorhergehenden Wahlen schnitt die AfD auch im Nordosten des Landes überdurchschnittlich ab, am stärksten im Kreis Lippe (16,6 %) und im Kreis Herford (16,3 %). Ganz am Ende der Skala finden sich große Städte, in denen die Partei kaum einen Fuß auf den Boden bekommt: Düsseldorf (8,4 %), Köln (7,3 %), Aachen (6,9), Bonn (6,7 %) und Münster (4,8 %).
Hessen: 13,6 Prozent
Rund 380.000 Hess:innen stimmten für die AfD. Landesweit erreichte sie 13,6 Prozent, 3,7 Prozentpunkte mehr als 2019. Damit überholte die AfD die Grünen, die 10,5 Prozentpunkte abgaben und nur noch auf 12,9 Prozent kamen, lag aber hinter CDU und SPD. Verglichen mit der Landtagswahl im vorigen Herbst freilich schnitt die AfD diesmal deutlich schwächer ab. Im Oktober 2023 hatte sie noch 18,4 Prozent geholt. Ihre höchsten Werte auf Kreisebene erreichte die AfD in Hersfeld-Rotenburg (18,9 %), im Vogelsbergkreis (18,5 %), im Landkreis Fulda und im Lahn-Dill-Kreis (jeweils 18,4 %) sowie im Schwalm-Eder-Kreis (17,8 %). Auf der Ebene der Städte und Gemeinden holte sie in Cornberg (Kreis Hersfeld-Rotenburg) mit 30,4 Prozent ihr höchstes Ergebnis. Kaum etwas zu holen gab es für sie hingegen in Darmstadt und Frankfurt mit jeweils 7,7 Prozent sowie in Marburg (7,5 %). Andreas Lichert, einer der beiden AfD-Landessprecher, freute sich über das bundesweite Ergebnis seiner Partei: „Trotz des massiven Gegenwindes“ habe sich die AfD „als zweitstärkste politische Kraft in Deutschland etabliert“. Das weise bereits auf die kommende Bundestagswahl hin und müsse bei den anderen Parteien endlich zu einem Umdenken und einem „sach- und demokratiegerechten Umgang“ mit der AfD führen.
Rheinland-Pfalz: 14,7 Prozent
AfD-Landeschef Jan Bollinger freute sich, dass mit Alexander Jungbluth „endlich“ auch ein Rheinland-Pfälzer in Brüssel und Straßburg mit dabei sei. 14,7 Prozent erhielt die AfD in Rheinland-Pfalz, 4,8 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Knapp 300.000 machten ihr Kreuz bei der Partei. Vor allem im Süden des Landes war sie erfolgreich. Ihren Spitzenwert erreichte die AfD mit 25,3 Prozent in Pirmasens. Dicht beieinander folgen Worms und Zweibrücken (jeweils 20,6 %), der Kreis Kusel (20,4 %), Ludwigshafen (20,0 %), der Kreis Kaiserslautern (19,9 %) und Frankenthal (19,7 %). In der verbandsfreien Gemeinde Germersheim war die AfD mit 27,2 Prozent gar stärkste Kraft. Unter der Zehn-Prozent-Marke blieb sie hingegen in Trier (9,6 %) und Mainz (6,2 %). In einer ersten Auswertung der Zahlen hielt das Statistische Landesamt erwartungsgemäß fest, dass die AfD insbesondere in Gebieten, die sich durch eine ungünstigere soziale Lage auszeichnen, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte. Einer Strukturanalyse des SWR zufolge schnitt die AfD in Kreisen mit einer hohen Arbeitslosenquote, niedrigen verfügbaren Haushaltseinkommen, einem niedrigen Bruttoinlandsprodukt, einem hohen Anteil der über 60-Jährigen und einem niedrigen Ausländeranteil überdurchschnittlich ab.