
ReclaimTikTok
Strategien gegen extrem rechte Online-Propaganda
Die Vehemenz, mit der jetzt über eine Social-Media-Plattform berichtet wird, ist erstaunlich. Vor allem wenn man bedenkt, wie lange demokratische Parteien zu TikTok geschwiegen haben. Wahlanalysen wie: „Junge Menschen sind alle rechtsextrem und TikTok ist schuld“, werden der Sache wirklich nicht gerecht. Es übersieht, dass die jungen Wähler*innen mehrheitlich demokratisch gewählt haben und dass es in allen Altersgruppen einen Rechtsruck gab – warum also sollten junge Menschen davon ausgenommen sein? Die Ängste, Sorgen und Probleme einer ganzen Generation beiseite zu wischen und alles auf eine Social-Media-App zu beziehen, kann nicht die Lösung sein. Doch es lässt sich nicht bestreiten, dass neben vielen weiteren Faktoren soziale Medien – insbesondere TikTok – eine Rolle spielen, in dem Rechtsruck, den wir gerade erleben.
Seit Januar haben sich die Medienartikel über extrem rechte Online-Propaganda vervielfacht: Es wurden Daten analysiert und Expert*innen interviewt und alle hatten eine Kernbotschaft: „Die AfD hat TikTok fest im Griff und die demokratischen Parteien haben dem leider nichts entgegenzusetzen.” Das ist nicht verwunderlich. Die AfD hat, wie keine andere Partei, schon vor langer Zeit das Potential der Plattform erkannt und stark in diesen Verbreitungsweg investiert. Die Reden von AfD-Politiker*innen werden so geschrieben, dass sie sich besonders gut in kurze Snippets (kurze Videos von zirka 20 bis 40 Sekunden) schneiden lassen, die dann mit hoher Wahrscheinlichkeit viral gehen.
Eine Aneinanderreihung von Punchlines
Extrem rechter Populismus hat es leicht auf TikTok. Der Algorithmus liebt kurze, emotionalisierende und polarisierende Videos. Und die AfD hat das verstanden und ist aufgrund des mangelnden Fokus auf Fakten in der Pole-Position. Von den zehn reichweitenstärksten Politiker*innen auf TikTok gehören sechs Accounts der AfD. Da hört es jedoch nicht auf. Die Rechten haben es wie niemand anders geschafft, eine Community aufzubauen, die ihre Inhalte für sie weiterverbreitet. Das sind nicht nur bezahlte Mitarbeiter*innen, das sind vor allem auch Privatpersonen. Unglaublich viele Accounts teilen die Videoschnipsel der AfD in atemberaubender Geschwindigkeit. Sie kommentieren und liken und amplifizieren, was das Zeug hält. Ein sehr hilfreicher Aspekt dabei: es lohnt sich finanziell. Mit TikTok-Views kann man ab einer gewissen Reichweite Geld verdienen. Deshalb ist es eine gute Taktik, auf die Themen zu setzen, die richtig viel Reichweite bringen. Rechtsextremismus wird zur Goldgrube. So mancher Bitcoin-Influencer hat deshalb einfach umgesattelt: Politische Hetze statt Crypto – es lohnt sich einfach mehr. Und wie der AfD-Mitarbeiter Erik Ahrens selbst angegeben hat, nutzt die AfD dabei immer die gleichen Inhalte und Videos, um einen Hypnose-ähnlichen Effekt zu erzielen. Wenn man all das zusammen nimmt, sieht man, wie groß das Problem ist, vor dem wir stehen.
TikTok hat zentrale Bedeutung
Rechtsextreme Botschaften, Geschichten und Narrative dominieren TikTok. Und das zeigt ganz deutlich: Es ist ein Fehler, TikTok weiter als die „kindische Tanzvideo-App“ zu betrachten. Diese App ist ein direkter Draht in die Bildschirme und Köpfe von 30 Millionen Menschen in diesem Land. TikTok-Nutzer*innen verbringen im Schnitt jeden Tag 1,5 Stunden auf dieser Plattform. Somit wird die App auch zum politischen Diskursraum. Ein Diskursraum, der aus Peking heraus gesteuert wird und dessen Betreiber*innen man ein intrinsisches Interesse unterstellen könnte, westliche Demokratien zu destabilisieren. Ein Diskursraum ohne Regulierungen, Fact-Checking oder Kontrolle. Und der aktuell von Rechtsextremismus geprägt ist. Die offensichtlichen Probleme mit dieser Plattform müssen angegangen werden. Das sind politische Fragen, die einer dringenden Lösung bedürfen. Aber das sind langwierige Prozesse. Und während diese durchdacht und diskutiert werden (sollten), verbreiten die Rechtsextremen dort nahezu ungebremst ihr Gedankengut.
Kaum Präsenz progressiver Bewegungen
Auch die progressiven aktivistischen Bewegungen mussten sich eingestehen: so wirklich präsent auf dieser Plattform waren wir nicht. Die gleichen Menschen, die im Januar und Februar Großdemos auf die Beine gestellt haben, auf Instagram und Twitter ihre Reichweiten genutzt haben, um klare Kante gegen Rechtsextremismus zu zeigen, haben gemerkt: Nicht nur die demokratischen Parteien haben TikTok vernachlässigt. Zwar gibt es durchaus einige Menschen, die guten und erfolgreichen progressiven Content auf dieser Plattform machen, aber in ihrer Breite hat die progressive Zivilgesellschaft nie wirklich einen Fuß in die Tür bekommen. Deshalb haben wir, eine Gruppe von Aktivist*innen, vorrangig von Fridays for Future, unter dem Hashtag #ReclaimTikTok eine Kampagne initiiert. Das Ziel ist recht einfach: TikTok nicht weiter den Rechten überlassen. Es soll das gesamte Meinungsspektrum der Gesellschaft auf dieser Plattform abgebildet werden. Die Mehrheit der Gesellschaft teilt rechtsextremes Gedankengut nicht. Es ist an der Zeit, dass das auch auf dieser App deutlich wird. Videos mit progressiven Inhalten sollten auf den „for you pages“ der Menschen auftauchen, die aktuell durch TikTok politisiert werden, um zu zeigen: „Echte Männer müssen eben nicht rechts sein!”
Ein Gegen-Netzwerk
Die Rechten sind so erfolgreich, weil sie so ein mächtiges Netzwerk aufgebaut haben. #ReclaimTikTok will ein Netzwerk von progressiven und demokratischen Menschen schaffen. Viele haben sich Accounts erstellt und angefangen, selbst Videos zu drehen. Authentische Inhalte von normalen jungen Menschen. Alle benutzen den gleichen Hashtag, und so findet man sich gegenseitig und immer mehr schließen sich ganz organisch der Kampagne an. Und im Gegensatz zu den Rechten haben wir einen signifikanten Vorteil: Wir müssen keine Angst haben, uns zu verstecken, da es sich bei uns nicht um verfassungsfeindliche, sondern um demokratische Inhalte handelt.
Ein guter Gradmesser dafür, ob Kampagnen gegen rechts erfolgreich sind, ist die Reaktion der Rechten. Wenn ihnen Kampagnen gefährlich werden, bekommen sie Angst und werden laut. So war es auch bei #ReclaimTikTok. Nur knapp zwei Wochen nach dem Start der Kampagne ist eine der Initiatorinnen mit ihrem Klarnamen im 50.000 Mitglieder starken Telegram-Channel eines der bekanntesten Neonazis gelandet. Martin Sellner persönlich hat dazu aufgerufen, den Hashtag zu kapern. Es hat nicht funktioniert.
Gewonnene Reichweite
Im Gegenteil: #ReclaimTikTok war kurz später auf Platz drei der „Trending Hashtags“ in Deutschland. Mittlerweile gibt es über 42.000 Videos unter dem Hashtag und kurz vor der Europawahl hatten unsere Videos zirka 3 Millionen Views täglich. Der Hashtag hat sich organisch auf der Plattform weitergetragen und bekannte TikToker*innen oder auch Politiker*innen von demokratischen Parteien haben ihn genutzt. In dieser Zeit sind vor allem zwei Dinge passiert: Wissen wurde gewonnen und Wissen wurde geteilt. In Workshops im ganzen Land haben die Menschen, die teilweise bis vor wenigen Monaten kein TikTok hatten, berichtet, was funktioniert und was nicht. Erkenntnis: Es braucht kein absurd teures Kamera-Equipment, um politische Botschaften rüberzubringen. Stattdessen braucht es authentische und unterhaltsame Geschichten. Es braucht gute Hooks (also die Botschaft/der Satz in den ersten drei Sekunden eines Videos) und einen halbwegs hellen Raum. Es braucht eine Kommunikation auf Augenhöhe.
Junge Menschen, auch junge Menschen auf TikTok, interessieren sich für politische Inhalte. Nur dürfen sie eben nicht trocken und langweilig verpackt sein. Die Vorstellung, TikTok-Nutzer*innen wären zu dumm für komplexe Themen, ist respektlos. Die viralsten Videos waren teilweise jene, in denen das AfD-Wahlprogramm Stück für Stück analysiert oder erklärt wurde, warum die Europawahl so wichtig ist. Jungen Menschen kann und sollte man mehr zutrauen als ein „What’s in my bag“-Video des Bundeskanzlers. Diese Plattform kann genutzt werden für spannenden, authentischen und gerne auch lustigen Content. Deshalb sind Videos von Menschen, die diese App nicht erst erklärt bekommen müssen, auch so erfolgreich.
Selbstschutz und Zusammenhalt
Aber gerade wenn wir junge Menschen dazu ermutigen, sich auf TikTok gegen die AfD zu positionieren, müssen wir auch darüber reden, was das heißt. Das heißt, Morddrohungen, Beleidigungen und ungefilterten Hass in den Kommentaren zu bekommen. Das heißt, nicht aus seinem Fenster heraus zu filmen oder in seiner Straße. Das heißt, Strafanzeigen zu stellen und seinen Namen geheim zu halten. Dabei ist klar, in einer Großstadt ist es leichter, seine Adresse geheim zu halten. In dem kleinen Dorf weiß sowieso jeder, wo du wohnst. Wir müssen als Gesellschaft dafür sorgen, dass wir die, die sich engagieren, sei es online oder analog, besser schützen. Trotz aller Erfolge muss man auch eines klar sagen: Die AfD ist immer noch mit großem Abstand die stärkste Kraft auf TikTok. Wir haben aber gezeigt: Es ist möglich, sich zu vereinen und etwas zu verändern. Wir alle können aus dieser Kampagne lernen.
Wir können uns vernetzen
Wir können ressourcenstarke Akteur*innen verpflichten, besser zu werden und anzuerkennen, dass Social Media generell, aber auch TikTok konkret, ein Diskursraum ist, den sie nicht mit einem Schulterzucken abtun können. Für den man Mitarbeitende und Zeit braucht. Wenn 18-jährige Aktivistinnen mit einem mittelmäßigen Smartphone es schaffen, ist es unverständlich, dass die großen Parteien oder NGOs das nicht können. Viele progressive Kräfte müssen aktiver und präsenter werden und besseren Content erstellen. Und gleichzeitig dürfen wir uns nichts vormachen. Wir werden den Kampf gegen die extremen Rechten nicht nur auf Social Media gewinnen. Wir können Inhalte dort verpacken und kommunizieren.
Aber was wir aus dieser Europawahl auch gelernt haben, ist folgendes: Um junge Menschen abzuholen, braucht es auch eine Politik, die junge Menschen ernst nimmt. Eine Politik, die die Sorgen dieser Generation versteht und ernsthafte Lösungen bietet. Und wir brauchen gesellschaftlichen Aktivismus mehr denn je. Wir müssen geschlossen gegen die extremen Rechten stehen und die Menschen schützen, die das jetzt schon tun. Wir müssen voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen. Und zwar überall – nicht nur online.