„Boykottiert ,Israel‘“-Wandbild in der Hamburger Hafenstraße Ende der 1980er Jahre.

„Anti-Imperialismus“

Linke Mode und rechte Fallstricke

Lange Zeit totgesagt, feiert derzeit der linke Antiimperialismus im Zuge des eskalierenden Gaza-Krieges eine Wiederauferstehung. In seiner Gut-Böse-Rhetorik werden nicht zuletzt antisemitische Stereotype verarbeitet und wiederbelebt, die in den antiimperialistischen linken Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts vertreten wurden.

Es gibt im linken Denken oft einen Zwang zur Schaffung dichotomer Weltbilder. Imperialismus ist dabei in Teilen der Linken zu einem Schlagwort verkommen, gegen das es zum guten Ton gehört, sich selbst als „antiimperialistisch“ zu bezeichnen. Nahezu jede Form von kapitalistischer Expansion wird dabei mit dem Begriff „imperialistisch“ bezeichnet, wobei diese Bezeichnung einen besonders verwerflichen Ausdruck kapitalistischer Einflussnahme bezeichnen soll. Jedoch ist nicht grundsätzlich jede kapitalistische Handlung zugleich imperialistisch, das Wesen des Kapitalismus liegt in dessen notwendiger Ausdehnung. Ein Merkmal ist sein Zwang zur Akkumulation: Kapitalakkumulation ist grundsätzlich Akkumulation auf höherer, erweiterter Stufenleiter. Unter dem Zwang der Konkurrenz sind die einzelnen Kapitale gezwungen, den erzielten Mehrwert erneut in Kapital zu verwandeln, indem sie den Mehrwert akkumulieren.

Karl Marx selbst hat nie über Imperialismus geschrieben, da er die Expansion des Kapitalismus als gegeben voraussetzte: Seine expansive Tendenz, sich die ganze Welt untertan zu machen, haben Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ proklamiert. Im ersten Band des Kapitals schrieb Marx im vierundzwanzigsten Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ Folgendes: „In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und ‚Arbeit‘ waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von ‚diesem Jahr‘. In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.“ Die gewaltsame Aneignung ist also von Beginn an die Bedingung zur Entstehung von Kapital.

Lenins und andere Imperialismustheorien

Am bekanntesten und relevant für linke Protestbewegungen im 20. Jahrhundert wurde die von Wladimir Iljitsch Lenin entworfene Imperialismusdefinition, die als Leitlinie marxistischer Definitionen galt und zur Rechtfertigung der Sowjetpolitik nach der russischen Oktoberrevolution dienen sollte. Danach war der Imperialismus als höchste und letzte — kriegerische und sterbende — Form des Konkurrenz- und Monopolkapitalismus anzusehen. Gegen diesen Imperialismus sollen die sogenannten „unterdrückten Völker“ aufbegehren. Lenin sah die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker als taktische Parole an und forderte zugleich seine Parteigenoss*innen in den von Russland unterdrückten Nationen auf, sich der Sowjetunion anzuschließen.

Durch das Scheitern der Weltrevolution hatte sich die Sowjetunion zu einem Sozialismus in einem Land entwickelt. Sie wurde zu einem Nationalstaat, der eine nachholende Entwicklung von der feudal-bäuerlichen Produktionsweise hin zu einem modernen Industriestaat durchführen konnte, weil er sich zum Teil vom Weltmarkt löste und mit dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RWG) sein eigenes — unter seiner Regie stehendes – Staatensystem schaffte.

Der arabische Nationalismus

Die russische Revolution war eine Bauernrevolution, ähnlich den siegreichen Bürgerkriegen in China und Jugoslawien. Das bäuerliche Element sowie die nationalen Erfolge in der nachholenden Entwicklung und das Bestehen der Sowjetunion und Chinas machten den sowjetischen „Realsozialismus“ für antikoloniale Bewegungen interessant. In der Blütezeit antikolonialer Bewegungen in den 1950er und 1960er Jahren reichten sich Nationalismus und Befreiungsideologie die Hände. Ein „arabischer Sozialismus“ konkurrierender sogenannter Baath-Parteien hatte mit marxistischer Ideologie nur die Bezeichnung als sozialistisch gemein. Statt Klassenkampf wurde dort nach einer Synthese von Nationalismus und Islam gesucht. Mit der Regierungsübernahme Gamal Abdel Nassers in Ägypten 1956 erreichte er seinen Höhepunkt, worauf durch den gegen Israel verlorenen Sechstagekrieg 1967 der schleichende Niedergang erfolgte.

Die in den 1940er Jahren entstandene Baath-Partei proklamierte „die Einheit der arabischen Völker“, jedoch war von Einheit nichts zu sehen, denn die Baath-Partei verfiel von Anfang an in zwei rivalisierende Flügel: Persönliche Streitereien, Rivalitäten innerhalb autoritärer Regime in Syrien und im Irak und religiöse Spaltungen in Alawiten und Sunniten trotz angeblich säkularer Ausrichtung verdeutlichten die autoritäre Ausrichtung des „arabischen Sozialismus“, der durch ausgeprägten Führerkult, exzessive Gewaltanwendung, (panarabischen) Nationalismus, Antisemitismus und Cliquenwirtschaft mehr mit Faschismus als mit Sozialismus gemein hatte. Deutsche Nazis lehrten Syriens Foltergefängnisse unter Baschar al-Assads Despotenregime das effektive Morden: „Kursi al-Almani“, den deutschen Stuhl, nennt man ein Folterinstrument, das Gerüchten zufolge kein Geringerer als Alois Brunner dem syrischen Geheimdienst beibrachte. In Palästina existierten beide rivalisierende Baath-Parteien nebeneinander, bevor seit den 1980er Jahren deren Bedeutung schwand.

Die Imperialismustheorie Lenins und der arabische Sozialismus fallen aus heutiger Sicht aus der Zeit. Der heute bestehende Kapitalismus weist Merkmale auf, die sich grundlegend von denen unterscheiden, die Lenin oder Rosa Luxemburg zu Beginn des letzten Jahrhunderts analysiert hatten. Das Kapital hat sich globalisiert: Nach dem Zusammenbruch des fordistischen Nachkriegskapitalismus und der in den siebziger Jahren beginnenden Weltwirtschaftskrise erfolgte eine massive Internationalisierung der Produktion und die Herausbildung eines transnationalen Kapitals. Zudem brach in den neunziger Jahren die Sowjetunion und damit die bipolare Weltordnung zusammen, und die Vorherrschaft der USA und des „freien Westens“ begann abzunehmen.

Wendepunkte

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der sogenannten Systemkonkurrenz und der Implosion der realsozialistischen Staatenwelt ging ein ökonomischer Niedergang der imperialistischen Supermacht USA einher. Zugleich ist diese Phase gekennzeichnet vom Aufstieg Chinas zur neuen Supermacht in Kooperation mit der 2006 durch Brasilien, Russland, Indien und China gegründeten Staatengemeinschaft der sogenannten BRICS-Staaten. 2010 erfolgte eine Erweiterung um Südafrika und zu Jahresbeginn 2024 um Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate, so dass die Vereinigung nun auch als BRICS-plus bezeichnet wird. Damit erwächst nicht nur eine neue Epoche des Imperialismus, sondern auch ein Revival autoritärer Verhältnisse unter neuen Vorzeichen.

Wandel des Imperialismus

Manche antideutsche Kritik am Antiimperialismus liest sich so, als hätte es Imperien und Imperialismus nie gegeben, was natürlich Nonsens ist. Selbstverständlich gab es Reiche wie etwa das Inkareich oder das Heilige Römische Reich, das dem Imperialismus seinen Namen gab. Es existierte das Osmanische Reich, das bei Gebietserweiterung andere politische Ordnungen zuließ, sowie das Britische Reich, das zu einem Weltreich wurde und vom 17. bis zum 20. Jahrhundert existierte. Die kapitalistischen Industrieländer rangen im „imperialen Zeitalter 1875-1945“ — so der gleichnamige Titel eines Werkes des Historikers Eric Hobsbawm — um Vorherrschaft und imperialistische Landnahme. Mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges beginnt im sogenannten Kalten Krieg der Aufstieg der USA zur unangefochtenen imperialistischen Supermacht. Nach Kriegsende wurden dort 60 Prozent der weltweiten Industriegüter produziert und enorme Geldmengen in die militärische Überlegenheit gesteckt.

Militärische Machtsicherung

Die USA führten im Zeitalter des Kalten Krieges eine Reihe sogenannter „schmutziger Kriege“. Neben den umfassenden militärischen Interventionen im Korea-Krieg (1950-1953) und dem Vietnamkrieg (1955-1975) setze sich dies meist nicht in sichtbarer Landnahme um, sondern war von verdeckter Infiltration in antikommunistischer Stoßrichtung gekennzeichnet. Die USA hingegen waren zur Zeit des Kalten Krieges nicht gerade zimperlich mit linken Befreiungsbestrebungen. Wenn ihr Einfluss irgendwo auf der Welt durch den Einfluss linker Bewegungen an Bedeutung zu verlieren drohte, intervenierte die Supermacht. Ein Beispiel dafür ist der Putsch gegen den demokratisch gewählten linken Präsidenten Salvador Allende in Chile im Jahre 1973. Mit hoher finanzieller Unterstützung für konservative Kräfte im Land durch den US-Auslandsgeheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) wurde mit Augusto Pinochet an der Spitze eine autoritäre Militärdiktatur eingesetzt, zu der Folter und Hinrichtung von Oppositionellen gehörten.

Domino-Theorie

1954 verkündete der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower die sogenannte Domino-Theorie. Danach würden „kommunistisch infiltrierte Länder“ wie bei einer Kette von Dominosteinen nacheinander in Richtung Kommunismus umfallen, wenn sie von den USA nicht gehindert würden. Dieses Narrativ diente der Rechtfertigung des steigenden US-Militärhaushaltes und der versteckten Interventionspolitik der USA im Systemkonflikt. Sie kam in schleichenden Interventionen in Afrika, Südostasien und besonders in Lateinamerika zum Ausdruck. In den achtziger Jahren waren es besonders die US-Interventionen in Nicaragua, El Salvador und Guatemala, die rechte Militärdiktaturen stützten. In El Salvador und Nicaragua unterstützen die USA rechte Todesschwadronen gegen linke Guerillabewegungen. Lateinamerika galt den USA als eigener „Hinterhof“ — ein Begriff, der zum Ausdruck bringt, dass dieses destruktive Eingreifen in die Politik anderer Länder mit großer Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch genommen wurde. Im Rahmen von Kritik und Protesten gegen solch ein Vorgehen brach sich zunehmend auch in Deutschland ein linker Antiamerikanismus Bahn.

Der Antiimperialismus in der westdeutschen Linken

Die Bilder des Koreakrieges und des Vietnamkrieges, an denen die USA beteiligt waren, riefen die Proteste linker Bewegungen hervor und steigerten einen linken Antiamerikanismus. Dabei kam es damals mitunter zur Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus durch Gleichsetzung der Methoden der zwei früheren Kriegsgegner: „USA-SS-SA“ riefen etwa die Teilnehmer*innen von Anti-Vietnamkriegs-Demos auf Deutschlands Straßen und suggerierten damit, dass die USA die Nachfolger des NS-Regimes seien. Für die westdeutsche Linke war der Internationale Vietnamkongress 1968 im Auditorium Maximum der Technischen Universität Berlin in West-Berlin ein Schlüsselmoment für die antiamerikanische Wendung, wiederum beeinflusst durch die Protestbewegungen im Land Bob Dylan’s, Joan Baez‘ und Martin Luther Kings. Auf dem Kongress waren die Befreiungsikone Angela Davis und Herbert Marcuse als zentraler Vertreter der Kritischen Theorie anwesend, der die unterdrückte schwarze Bevölkerung in den USA sowie die Befreiungsbewegungen zum neuen revolutionären Subjekt erkor. Spätestens nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien im Juni 1967 wandelte sich die westdeutsche Linke, die bis dato prozionistisch orientiert war, zum Antizionismus.

Antisemitische Ausprägungen

Die Moralisierung des Politischen bekam eine religiöse Färbung durch einen Slogan, der vom iranischen Islamistenführer Ayatollah Khomeini geprägt wurde und der die USA als „großen“ und Israel als angeblich bloßen „Brückenkopf“ des „freien Westens“ in Nahost als „kleinen Satan“ ansah und diffamierte. Anfänglich wurde der islamistischen Diktatur im Iran sogar noch seitens westdeutscher Linker Sympathie und antiimperialistische Hoffnung entgegengebracht — Hauptsache, es ging gegen die USA. Der Antizionismus — und damit die Ablehnung des Staates Israel zumindest in den Grenzen nach 1967 — wurde identitätsbildend für das antiimperialistische Weltbild in der westdeutschen Linken. Die im Sechstagekrieg siegreichen Israelis wurden zu Tätern gegenüber den Palästinenser*innen erklärt. Diese Ablehnung mit antisemitischen Untertönen war nicht zuletzt auch auf den Einfluss einzelner zurückzuführen, die wie etwa Horst Mahler zu zentralen Führungsfiguren der Roten Armee Fraktion (RAF) wurden.

Rechter „Anti-Imperialismus“

Fallstricke eines linken Antiimperialismus liegen in der Anschlussfähigkeit für die extreme Rechte. Hier sind es besonders der Nationalismus und die Sehnsucht nach dem Aufbegehren angeblich „natürlicher Völker“, die zu völkischen Ordnungsvorstellungen passen und die einen solchen Antiimperialismus für nationalrevolutionär orientierte rechte Gruppen interessant machen. Schon in den 1980er Jahren bezog sich die extreme Rechte um Alain de Benoist propagandistisch etwa auf einen Slogan der französischen Antirassismus-Organisation SOS Racisme (SOS Rassismus) für das Recht auf Verschiedenheit — um es gegen das Prinzip der Gleichheit aller Menschen zu wenden, indem die angeblich essenzielle Verschiedenheit von „Völkern“ betont wurde.

Die extreme Rechte speist ihren Antiamerikanismus aus der Kulturfrage: Sie wird anstelle der Klassenfrage zum propagandistischen Bezugspunkt gemacht. Die USA werden stellvertretend für den Liberalismus zum „Hauptfeind“ erklärt. Zugrunde liegt dem der antisemitische Verschwörungsmythos, nach dem eine implizit jüdisch markierte Elite aus den USA heraus die Welt kontrollieren und durch die Verbreitung einer vermeintlich konsumistisch-dekadenten, dem „natürlichen Leben“ widersprechenden Kultur Völker und Traditionen auslöschen wolle. Gegen den angeblich drohenden „Untergang des Abendlandes“ — ein Buchtitel von Oswald Spengler, Vertreter der extrem rechten Strömung der sogenannten Konservativen Revolution aus der Weimarer Zeit — und „die Gleichschaltung der Welt“ durch einen „Coca-Cola-Imperialismus“, also Kulturimperialismus, sei mit nationalrevolutionären Mitteln zu kämpfen.

Lager der Palestine Liberation Organization (PLO) dienten sowohl für antiimperialistisch gesinnte Linke aus der RAF (in den 1970er Jahren) wie für Neonazi-Terroristen Anfang der 1980er Jahre als Ausbildungsstätten: Der antiisraelische Antisemitismus und der Antiamerikanismus waren Bindeglieder zwischen einem linken und einem rechten Antiimperialismus.

Antifaschismus ernst nehmen

In den 1980er Jahren prangten an den Häuserwänden der Hamburger Hafenstraße und der Düsseldorfer Kiefernstraße Wandbilder mit der Parole „Boykottiert ‚Israel’: Waren, Kibuzzim und Strände!“ Dabei wurde das Wort „Israel“ als ein angeblich künstlicher Staat in Anführungsstriche gesetzt — der Antiimperialismus hatte damals eine antiisraelische Stoßrichtung und beinhaltete Antisemitismus und bewaffnete „Aufstands“- und Gewaltphantasien gegen Jüdinnen_Juden. Im Zuge des aktuellen Gaza-Krieges erfährt eine solche Haltung unerwartete Wiederkehr. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit linker Geschichte und eigenen Verstrickungen in Antisemitismus zu befassen. Wer von sich selbst einen stabilen politischen linken Kompass erwartet und wer Antifaschismus ernst nehmen will, wäre gut beraten, sich auch damit auseinanderzusetzen.