
Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus
Eine Einschätzung israelfeindlicher Geschehnisse in NRW
Die Anzahl antisemitischer Vorfälle hat seit dem 7. Oktober 2023 auch in Nordrhein-Westfalen ein neues Niveau erreicht. Laut RIAS NRW wurden 2023 landesweit insgesamt 664 antisemitische Vorfälle erfasst — eine Steigerung zum Vorjahr um 152 Prozent. Knapp drei Viertel davon ereigneten sich nach dem 7. Oktober. Sofern die Vorfälle eindeutig einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugerechnet werden konnten, war dies meist anti-israelischer Aktivismus. Damit ist ein heterogenes Milieu gemeint, in dem die israelfeindliche Motivation andere politisch-weltanschauliche Positionierungen überwiegt. Vielfach wurden die Vorfälle im Kontext von Versammlungen registriert, deren Thema eine vorgebliche oder tatsächliche Solidarität mit Palästinenser_innen war, in deren Rahmen aber antisemitische Einstellungen zum Tragen kamen. Es lohnt sich ein genauerer Blick auf einzelne Gruppen und verschiedene Motive des israelbezogenen Antisemitismus innerhalb der Proteste.
Unterschiedliche Formen von Protesten und ihre Akteur_innen
Die politische Artikulation von Palästina-Solidarität im Ruhrgebiet ist divers: Wir beobachten vier verschiedene Akteurskonstellationen, die nicht als statisch voneinander getrennt verstanden werden sollten. So gibt es zum einen immer wieder extrem rechte Demonstrationen und Aktionen, bei denen Israel dämonisiert und „Solidarität mit Palästina“ bekundet wird. Diese ließen sich nach dem 7. Oktober jedoch nur vereinzelt beobachten. Beispielsweise hingen Dortmunder Neonazis am 10. Oktober 2023 ein Banner mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück“ aus einem ihrer Häuser im Stadtteil Dorstfeld. Eine eindeutige Anspielung auf eine NS-Parole, bei der nur „Juden“ durch „Israel“ ersetzt wurde. Sie zeigt, wie Neonazis ihren Judenhass, der zentrales ideologisches Element in der extremen Rechten bleibt, auf Israel projizieren.
Zum anderen zogen IslamistInnen auf die Straßen, um geschlechtergetrennt für die „Freiheit Palästinas“ und implizit für die Vernichtung Israels zu protestieren. Im November 2023 fand in Essen eine Demonstration mit 3.000 Teilnehmenden statt, die als pro-palästinensische Demonstration angemeldet war und die Errichtung eines Kalifats forderte. Zu sehen waren hier Symbole von Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung), einer in Deutschland verbotenen transnationalen islamistischen Bewegung. In Dortmund war es vor allem die Furkan-Gemeinschaft, die zu öffentlichen Gebeten für die Menschen in Gaza oder Kundgebungen aufrief. Der türkisch-islamistischen Gruppe geht es kaum um Frieden, wie sie in einer Rede bei einer Versammlung Ende Oktober verdeutlichte. Sie beschuldigten Israel der „Tyrannei wie eh und je“ und unterstellten dem jüdischen Staat „Durst nach Blut von kleinen Säuglingen und Kindern“. Vorstellungen von Israel als Übel der Welt mischen sich hier mit antisemitischen Mythen.
Als Drittes werden Demonstrationen auch von säkular-palästinensischen Gruppen organisiert. Diese sind entsprechend nicht religiös grundiert, zeigen aber häufig ähnliche antisemitische Motive. Als vierter Akteur sind es Gruppen aus dem links-antiimperialistischen Spektrum, die gegen Israel protestieren. Zu Bekanntheit hat es die mittlerweile verbotene Gruppierung Palästinasolidarität Duisburg gebracht, die in Zusammenarbeit mit dem islamistischen Verein Muslim Interaktiv den „palästinensischen Widerstand“ unterstützte. Zu diesem Widerstand gehörte mutmaßlich die Unterstützung der Hamas.
Zu den Demonstrationen reihen sich verschiedene Aktionen an Hochschulen. Hier sind es vor allem junge Studierende, die über den Krieg in Gaza politisiert wurden und die Hörsaalbesetzungen oder Protestcamps organisieren. So wurde beispielsweise im Mai 2024 auf dem Gelände der TU Dortmund ein gegenwärtig noch laufendes „Palästinacamp“ errichtet, zu dem auch bundesweit Aktivist_innen zu Vorträgen und Vernetzung anreisen. Jüdische Studierende beschreiben ihre Situation an Hochschulen teilweise als unsicher, etwa weil an einzelnen Standorten in aggressiver Weise Stimmung gegen „Zionisten“ gemacht wurde oder antisemitische Vernichtungsandrohungen an die Wände geschmiert wurden.
Antisemitismus durchzieht die Proteste in NRW
Auf den Protesten gibt es wiederkehrende Probleme mit Antisemitismus. Protestierende malen rote Dreiecke auf ihre Schilder, die spätestens seit dem 7. Oktober als Symbol der Zielmarkierung von Feind_innen durch die Hamas bekannt sind. Auch rot bemalte Hände gehören zur gängigen Bildsprache der Proteste. Sie stehen im Kontext einer bekannten Gewalttat in Israel, bei der ein Terrorist einen israelischen Reservisten ermordete und seine blutigen Hände der jubelnden Menge auf der Straße zur Schau stellte. Auch wenn an einer Umdeutung der Symbole gearbeitet wird, verstehen viele Jüdinnen_Juden sie als Hommage an antisemitische Gewalt und Mord.
Auf den Demonstrationen werden die Massaker des 7. Oktober und die Geiselnahmen als Teil legitimen Widerstands gegen Israel verharmlost. Israel wird im Kontext dieser Erzählung als unrechtmäßiger Staat diffamiert und die Komplexität des arabisch-israelischen Konfliktes verkannt. Der Ruf nach der Befreiung Palästinas läuft dabei meistens auf die Forderung hinaus, dass Israel als jüdischer Staat verschwinden müsse. Daneben sind es die Übertragung alter antisemitischer Mythen auf Israel, wie die sogenannte Ritualmordlegende, die in der Parole „Kindermörder Israel“ ihre Aktualisierung findet, oder die Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus, durch die sich Antisemitismus in den Protesten zeigt.
Postkoloniale Erklärungsansätze und Antiimperialismus
Blickt man auf Neonazis und IslamistInnen, so gehört Antisemitismus zum ideologischen Fundament. Der Hass auf Israel ist grundsätzlich judenfeindlich motiviert. Dies ist bei Formen des linken Antisemitismus nicht zwingend so. Zwar kommt auch das vor, häufig werden aber auch antiimperialistische Erklärungsschablonen für politische und gesellschaftliche Konflikte genutzt, die antisemitischen Stereotypen die Tür öffnen. Etwas neuer — zumindest im deutschen Kontext — sind postkoloniale Erklärungsansätze, denen zufolge Israels Entstehung und Existenz als „Siedlerkolonialismus“ beschrieben wird. Sie können mit antiimperialistischen Verständnissen zusammengedacht werden. Der Bezug auf postkoloniale Erklärungsansätze stützt die Erzählung, dass Araber_innen indigen in der Region seien, während (jüdische) Israelis quasi aus dem Nichts dorthin kamen. Ein als unterdrückend, rassistisch und kolonial geltender Staat muss dieser Sichtweise zufolge abgeschafft werden, während das Massaker der Hamas als antikoloniale Praxis eingeordnet wird, mit der sich die Unterdrückten zur Wehr setzen. Der Kontext der Staatsgründung Israels, die Funktion als Schutzraum vor antisemitischer Gewalt und die Tatsache, dass Jüdinnen_Juden schon immer in diesem Teil der Welt gelebt haben, wird dabei ausgeblendet. Als Beispiel für diese Strömung kann in NRW die Münsteraner Gruppe Palästina Antikolonial gelten.
Auch Verschwörungsglaube, Antisemitismus und Misogynie propalästinensischer Aktivist_innen zeigten sich etwa, als diese in Dortmund die Vorführung des Films „Screams before Silence“ verunmöglichten. In dem Film, der Opfer und Angehörige des 7. Oktober zu Wort kommen lässt, wird die sexualisierte Gewalt durch die Hamas thematisiert. Die Aktivist_innen gingen davon aus, dass in diesem Film Lügen erzählt würden und wollten dies verhindern. Nach Störungen und einem Feueralarm wurde die Vorführung abgesagt, weil eine sichere Durchführung nicht mehr gewährleistet werden konnte.
Für die Zivilgesellschaft in Gaza und Israel
Es stellt sich die Frage, warum Proteste nicht auch ohne antisemitische Parolen und Darstellungen auskommen. Und warum sie die Empathie mit der Situation der Palästinenser_innen nicht bei gleichzeitiger Benennung der antisemitischen Gewalt der Hamas in den Mittelpunkt rücken können. Leider sind Aktionen, die sich gleichermaßen für die Zivilgesellschaft in Gaza und Israel einsetzen, in NRW mit der Lupe zu suchen. Stattdessen konnten auf fast allen Versammlungen antisemitische Vorfälle beobachtet werden. Es lassen sich vereinzelt Plakate auf den Demonstrationen finden, die sich gegen Antisemitismus aussprechen. Trotzdem wird im Gesamtbild der Proteste ein anderer Eindruck vermittelt und die einzelnen Slogans gegen Antisemitismus gehen kläglich unter. Es fehlen laute Initiativen, die Solidarität mit den zivilen Opfern in Gaza ohne ein Abdriften in antisemitische Muster anbieten. Solche müssen unseres Erachtens mindestens auf die Negierung und Dämonisierung Israels verzichten und die Gewalt der Hamas als Auslöser für den aktuellen Krieg und das andauernde Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und Israel mitbenennen.
Der 7. Oktober ist nicht vorbei
Der Terrorangriff der Hamas war auch für Jüdinnen_Juden in Nordrhein-Westfalen ein massiver Einschnitt, dessen Folgen längst noch nicht vorüber sind. Ebenso dramatisch war die explosive Zunahme antisemitischer Vorfälle und die damit einhergehende Verunsicherung. Als Beratungsstelle haben wir seither eine ungebrochene Nachfrage nach Beratungs- und Bildungsangeboten zum Thema. Die genannten Proteste führen zusätzlich zu einem akuten Verlust des Sicherheitsgefühls der jüdischen Communitys in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig sind es Markierungen wie antisemitische Sticker, Plakate oder Graffiti, die in den sozialen Nahräumen von Betroffenen zu sehen sind und eine zusätzliche Belastung darstellen. Mit Sorge blicken wir auf die skizzierten Proteste, die scheinbar zu einer weiteren Radikalisierung der genannten Akteur_innen führen — und zu einem fortwährenden Bedrohungsszenario. Es ist daher eine nicht zu unterschätzende Geste der Solidarität, wenn antifaschistische und linke Gruppen sich deutlich gegen Antisemitismus und die israelfeindlichen Proteste positionieren.
ADIRA ist eine landesgeförderte Antidiskriminierungsberatungsstelle bei der Jüdischen Gemeinde Dortmund und unterstützt in der Region Westfalen-Lippe Betroffene von Antisemitismus. Daneben bietet ADIRA Fortbildungs- und Workshopformate für verschiedene Zielgruppen an und leistet Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Antisemitismus (www.adira-nrw.de).