
Gibt es noch rote Linien?
Das Sicherheitspaket der „Ampel“ als asylpolitisches Lehrstück
Der islamistische Anschlag hätte zu einer Debatte über die Verhütung islamistischen Terrors, die Prävention von Radikalisierung in Sozialen Medien und die Stärkung von lokalen Demokratieprojekten führen können. Die Revitalisierung des von der mittlerweile gescheiterten „Ampel“-Regierung auf Eis gelegten Demokratiefördergesetzes hätte anstehen können. Aber die Bundesregierung unter der Federführung des Bundesministeriums für Inneres entschied sich (wieder einmal) für eine Asylrechtsverschärfung und eine Ausweitung von Überwachungsinstrumenten.
Im asylpolitischen Teil des Pakets ging es um den vollständigen Leistungsausschluss für sogenannte Dublin-Flüchtlinge. Nicht nur ist eine solche Änderung mit der Achtung der Würde des Menschen und dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes unvereinbar, es führt auch faktisch zu Obdachlosigkeit, Verelendung und möglicherweise mehr Kriminalität. Das Gesetz schafft mehr Möglichkeiten für die Polizei, anlasslose Kontrollen durchzuführen, etwa um Menschen nach Messern zu durchsuchen. Eine Studie der Polizeiakademie Niedersachsen hatte erst im Sommer 2024 bestätigt, dass solche weiten Ermessensspielräume ein Einfallstor für rassistische Polizeikontrollen sind. Zudem enthält das Sicherheitspaket erweiterte Befugnisse der Polizei bei der Anwendung KI-gestützter Gesichtserkennungssoftware, die alle Menschen – egal ob geflüchtet oder nicht – treffen können. Die Bundesdatenschutzbeauftragte warnte in ihrer Anhörung vor den Abgeordneten eindringlich vor den uferlosen Überwachungsinstrumenten.
Menschenwürde oder Regierungsfähigkeit?
Die Debatte um das Gesetz verrät viel über den Zustand der Mitte-Links-Parteien, zu denen SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Parteienspektrum weiterhin gezählt werden. Im Vorfeld der Abstimmung gab es innerhalb der SPD Kritik: Unter dem Titel „Eintreten für Würde“ schlossen sich über 13.000 Genoss:innen zusammen, die sich gegen die Asylrechtsverschärfungen stellten. In dem offenen Brief hieß es: „Mit Trauer, Wut und Entsetzen mussten wir in den vergangenen Tagen mitverfolgen, wie führende Sozialdemokrat*innen einen Diskurs der Ausgrenzung und Stigmatisierung mitbefeuert haben (…)“. Und weiter: „Die vorgeschlagenen Maßnahmen der Kürzung der Sozialleistungen unter das Existenzminimum und Hinderung der Einreise entmenschlichen Asylsuchende und sind dabei weder mit dem europäischen Gedanken, dem europäischen Recht, noch mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar. Diese Maßnahmen sind nicht nur ineffektive Scheinlösungen gegen islamistischen Terrorismus, sondern sie legitimieren rechtspopulistische und rechtsextreme Narrative gegen Geflüchtete und verstärken auch einen migrationsfeindlichen, rassistischen Diskurs von Rechts, der insbesondere von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in diesem Land mit großer Sorge aufgenommen wird.“ Bei den „Grünen“ war die Mobilisierung gegen das Gesetz überraschenderweise kleiner. Zwar unterstützten auch hier hunderte Parteimitglieder einen offenen Brief gegen das Gesetz, aber mit deutlich weniger Nachdruck.
Am Ende stimmte eine große Mehrheit für das Sicherheitspaket. Nur 15 SPD-Abgeordnete und sechs Abgeordnete der „Grünen“ votierten dagegen. Wie bei namentlichen Abstimmungen üblich, konnten Abgeordnete persönliche Erklärungen abgeben, die im Bundestagsprotokoll der 195. Sitzung aus der 20. Wahlperiode nachzulesen sind. Diese Erklärungen sind ein Lehrstück über die Verschiebung der öffentlichen Debatte in der Asylpolitik. Ein SPD-Politiker erklärte: „Ja, ich habe heute für das sogenannte Sicherheitspaket gestimmt. Mit Faust in der Tasche und jeder Menge Zweifel und Kritik.“ Er stimme vielen Kritiken zu, aber halte das Paket am Ende für vertretbar. Er endet mit einem an die Wähler:innen gerichteten Appell: „Ich bin der festen Meinung, dass wir nicht weniger, sondern mehr Migration brauchen. (…) Seien sie laut, ergreifen Sie Position. Sorgen Sie dafür, dass wir dafür gesellschaftliche Mehrheiten bekommen und auch parlamentarische.“ Der Abgeordnete erwog offenbar nicht, dass die Wähler:innen möglicherweise schon bei der letzten Bundestagswahl ihre Stimmen Mitte-Links-Parteien im Vertrauen darauf gegeben hatten, dass diese sich gegen einen radikalisierten Migrationsdiskurs stellen würden.
Im Koalitionsvertrag der „Ampel“ von 2021 hieß es immerhin, man wolle einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird“. Ein anderer SPD-Abgeordneter erkannte in dem Gesetz zutreffend eine große Gefahr für mehr obdachlose Flüchtlinge und befürchtete „Verteilungskämpfe im Wohnungslosenhilfesystem“. Er stimmte dennoch „schweren Herzens“ dafür. Aber er wolle sich in den Haushaltsberatungen für eine „Stärkung der Finanzierung der Wohnungslosenhilfe einsetzen, um den möglichen Auswirkungen zu begegnen“. Es wurde also offen eingestanden, dass das „Sicherheitspaket“ zu mehr Verunsicherung unter wohnungslosen Menschen und zu politisch produzierten Spaltungen führt, die dann wieder finanziell aufgefangen werden müssen.
In der Erklärung einer „Grünen“-Abgeordneten waren ähnliche Töne zu lesen. Sie halte das Gesetz für eine „Katastrophe für die Menschen, die es betrifft, und es ist eine Kapitulation vor einer öffentlichen Debatte (…) die nur noch einen irrationalen Überbietungswettbewerb mit Forderungen nach immer weiteren Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts darstellte“. Sie habe dem Gesetz nur zugestimmt, um das Ende der Regierungskoalition zu verhindern. Das Argument des „kleineren Übels“ erscheint zumindest vor dem Hintergrund, dass laut Recherchen der DIE ZEIT die FDP bereits zu diesem Zeitpunkt die Sabotage der „Ampel“-Koalition plante, nicht besonders tragfähig. Die Koalition scheiterte am 6. November – also nur drei Wochen nach der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes. Die Wahl zwischen der Wahrung der Menschenwürde und dem Erhalt der Regierungsfähigkeit gerät damit zur Farce.
Politik ohne Visionen
Die Debatten um das Sicherheitsgesetz zeigen eindrücklich die Visions- und Hilflosigkeit der Mitte-Links-Parteien, die sich von rassistischen Migrationsdebatten treiben lassen. Teile von SPD und „Grünen“ tragen diesen Kurs bewusst mit. Die SPD hat in den letzten Großen Koalitionen immer wieder für einschneidende Asylrechtsverschärfungen gestimmt, und es gibt Stimmen innerhalb der Partei, die „Mehr Dänemark“ wagen wollen. Damit ist ein asylpolitisches Programm gemeint, das auf mehr Härte und Entrechtung setzt, um „Ordnung“ zu schaffen und vermeintlich Wähler:innen von rechten Parteien zurückzuholen. Diese Strategie verfolgt die dänische Sozialdemokratie seit einigen Jahren. Politiker wie Olaf Scholz beschreiten diesen strategischen Pfad, wenn sie „Abschiebungen im großen Stil“ ankündigen, aber von der Empirie wird dieser Ansatz wenig gestützt. Viele politikwissenschaftliche Studien sehen hierin eine wirkungslose Strategie, die sich für sozialdemokratische Parteien langfristig nicht auszahlt. Die dänische Sozialdemokratie gewann die Wahlen 2019 vor allem wegen eines linken Profils in der Sozialpolitik, das sie mittlerweile in einer Koalition mit den Liberalen wieder erheblich einbüßt – ähnlich wie die SPD in der „Ampel“-Regierung und dem von der FDP verordneten Sparkurs. Zudem sind rechte Parteien in Dänemark nicht nachhaltig geschwächt worden, sondern das extrem rechte Parteienspektrum hat sich pluralisiert. Diese Parteien kommen auf über 15 Prozent bei Umfragen. Noch erheblicher ist, dass sich rechtes Gedankengut in Dänemark normalisiert und sich das Land immer stärker gegen Migration abgeschottet hat. Trotzdem halten einflussreiche Sozialdemokraten in Deutschland an diesem „Vorbild“ fest.
Die „Grünen“ haben während der „Ampel“-Regierung in der Asylpolitik praktisch alle roten Linien des Parteiprogramms aufgegeben und mehr Leistungsausschlüssen im Asylbewerberleistungsgesetz, der Einstufung neuer sicherer Herkunftsstaaten (Moldau und Georgien) und Inhaftierungen von Geflüchteten an den Außengrenzen zugestimmt. Der neue Slogan in der Partei lautet „Humanität und Ordnung“ und verspricht den Wähler:innen einen Rest an flüchtlingsfreundlichen Positionen. Aber hinter dem inhaltlich unbestimmten Begriffspaar steckt die Legitimation einer faktischen Aushöhlung des individuellen Asylrechts, indem Klagerechte zurechtgestutzt und menschenrechtliche Verpflichtungen schrittweise infrage gestellt werden. Dass unter einem „grün“-geführten Außenministerium das Bundesaufnahmeprogramm für afghanische Schutzsuchende wohl eingestellt wird, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Migrationspolitik als demokratische Frage
Nach dem erfolgreichen Sturz von Syriens Diktator Baschar al-Assad im Dezember 2024 ging in Deutschland unmittelbar eine Debatte los, die auf rasche Abschiebungen von syrischen Geflüchteten zielte, obwohl die weitere Entwicklung der Lage in Syrien unter der islamistischen Rebellengruppe Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) nicht seriös einzuschätzen ist. Der Think-Tank-Lobbyist Gerald Knaus von der European Stability Initiative, der den EU-Türkei-Deal mitentworfen hatte und auch unter SPD und „Grünen“-Abgeordneten mit seinen Vorschlägen auf offene Ohren stößt, sagte im ZDF: „Sollte sich die Zahl syrischer Asylanträge 2025 schnell verringern, würde extrem gefährlichen Kräften das Wasser abgegraben – der AfD hierzulande, der FPÖ in Österreich.“ Dieses Narrativ verfängt immer wieder in der öffentlichen Debatte: Die Reduzierung von Migration wird mit einer direkten Schwächung extrem rechter Parteien in Verbindung gebracht. Dabei sind gerade AfD und FPÖ mittlerweile fest verankert. Ihre Positionen haben sich normalisiert oder sind im Falle Österreichs sogar mehrheitsfähig geworden. Die Parteien verfügen über lokale Hochburgen und bespielen erfolgreich auch andere Themen als Migration.
Offenkundig geht es bei der Migrationspolitik und der Entrechtung von Migrant:innen also um viel mehr. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder radikalisierte Migrationsdiskurse, die quasi zur Bildung einer Anti-Migrations-Einheitsfront im Parteienspektrum geführt hat. Der Soziologe Didier Bigo schrieb 2002 in seinem programmatischen Aufsatz „Sicherheit und Immigration“: „Politiker fühlen sich beleidigt durch ihre offensichtliche Unfähigkeit, die Integrität des ‚nationalen Körpers‘ zu sichern, den sie ja repräsentieren.“ Hinter den Angriffen auf Migrant:innen steckt demnach ein virulenter Nationalismus, der gerade nicht nur auf die extreme Rechte beschränkt ist, sondern auch im Spektrum der Mitte-Links-Parteien verfängt. Der Umgang mit der Migrationspolitik berührt daher grundsätzliche demokratische Fragen: Gilt die Würde des Menschen nur für die Mitglieder des eigenen nationalen Containers oder für alle Menschen?