Mythos Deutscher Wald

Über Nationenkult und Antisemitismus in einem Naturbild

Seit Jahrhunderten ist der Wald weit mehr als ein Ort der Natur. Waldbilder wurden nicht nur romantisch verklärt, sondern auch rassistisch und nationalistisch instrumentalisiert. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie vielschichtig und problematisch dieses Symbol nationaler Identität ist.

.„O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächt′ger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft′ge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt!“

Diese Zeilen aus dem Gedicht „Abschied“ (vom Walde) von Joseph von Eichendorff verdeutlichen die Wahrnehmung des Waldes in der Romantik. Der Wald ist Schutz und Zufluchtsort vor einer hektischen und chaotischen Welt. Sehnsüchtig zieht es den Dichtenden in das „grüne Zelt“ und entsprechend melancholisch sind seine Gedanken beim Abschied. Auch heute noch gehen wir in den Wald, um dem Alltag zu entfliehen, Kraft zu tanken oder um die Natur zu genießen. Der Wald ist jedoch nicht nur ein Ort der Erholung, sondern auch Projektionsfläche. Vor allem (extrem) rechte Kreise stilisieren die Baumwelt zum organischen Symbol nationaler Identität. Doch auch jenseits dieser Kreise sind Bilder wie „der deutsche Wald“ oder „die deutsche Eiche“ wirkmächtig. Warum das so ist und warum diese Bilder nicht unproblematisch sind, liegt auch an romantischen Dichtern wie Eichendorff.

Tacitus’ Germania und der Ursprung des Waldmythos

Den Keim des Mythos’ „Deutscher Wald“ legte der römische Geschichtsschreiber Tacitus um das Jahr 100 nach der Zeitenwende. In seiner Germania schildert er das Land östlich des Rheins als „durch seine Wälder grauenerregend“. Obwohl er das germanische Gebiet nicht aus eigener Anschauung kannte, schloss er von der rauen Umwelt und dem kargen Klima auf die Sitten der dort lebenden Völker. Anstatt in eine Großstadt wie Rom zu ziehen, zögen es die Germanen vor, als Kinder der Natur im Wald zu leben. Das Walddickicht hätte ihnen dann auch einen unschätzbaren Vorteil bei der „Schlacht im Teutoburger Wald“ gegeben. Hier besiegte Arminius bzw. Hermann der Cherusker den römischen Feldherrn Varus mit seinen drei Legionen und beendete damit die römischen Versuche, die rechtsrheinischen Gebiete Germaniens zu unterwerfen.

Die explizite Verortung der Germanen im Wald und Tacitus‘ Aussage, Arminius sei der Befreier Germaniens von der Weltmacht Rom, griffen Publizisten und Dichter zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Unter dem Eindruck des Endes des Heiligen Römischen Reiches 1806 und der antifranzösischen „Befreiungskriege“ von 1813 bis 1815 wurden Wald, Deutschtum und Nation auf der Suche nach kollektiver Identität miteinander verknüpft. Der Wald als antiurbanes Symbol und vermeintlicher Inbegriff historisch gewachsener und zu bewahrender Traditionen richtete sich explizit gegen das städtische Frankreich und gegen die Werte von Freiheit und Gleichheit der Französischen Revolution. Der eingangs erwähnte Eichendorff war mehr als der romantische Verfasser sehnsuchtsvoller Waldgedichte. Er verklärte die Eiche zum widerständigen Symbol gegen die napoleonische Herrschaft. Sie war für ihn Ausdruck vaterländischer Vergangenheit bis hin zu den Germanen und verkörperte die Tugenden deutscher Freiheit und Treue.

Nationales Symbol und antisemitische Stereotype

Neben ihm wirkten weitere Protagonisten am Mythos „Deutscher Wald“ mit. In den Veröffentlichungen der Gebrüder Grimm war der Wald ein Ort der Märchen und Metaphern. Der Geschichtsprofessor Ernst Moritz Arndt schuf eine identitätsstiftende Erzählung des Eigenen durch die Konstruktion eines Feindbildes des Anderen. So stellte er dem nordisch imaginierten „Vaterlande grüner Eichen“ Italien als südliches „Land der Citronen und der Banditen“ gegenüber. Arndt dachte den Schutz des Waldes mit dem Erhalt des Volkes zusammen: „Denn jetzt wird in vielen Ländern Europas die Axt, die an den Baum gelegt wird, häufig zu einer Axt, die an das ganze Volk gelegt wird.“ Der „Deutsche Wald“ blieb nach der Niederschlagung der Revolution 1849 angesichts der fortbestehenden Kleinstaaterei ein wichtiges Symbol der Zusammengehörigkeit.

Der Arndt-Schüler Wilhelm Heinrich Riehl erklärte ihn gegenüber dem englischen Park und dem französischen Feld zur typischen Nationalnatur. Durch diese Naturvergleiche sollte Deutschland auf- und die anderen Nationen abgewertet werden. Wie Arndt ging Riehl davon aus, dass der Mensch von der Landschaft, in der er aufwächst, charakterlich geprägt wird. Diese Überlegungen mündeten in antijüdische Ressentiments. Dem vaterlandslosen und daher widernatürlichen (jüdischen) Kosmopolitismus stellte er das deutsche Landvolk, dem großstädtischen, jüdischen „Schacherer“ den ehrlich arbeitenden Bauern und Handwerker gegenüber. Durch seine Fähigkeit zu eingängigen Formulierungen gelang es ihm, den „Deutschen Wald“ als Merkmal nationaler Bestimmung und Einzigartigkeit populär zu machen. Dieser Mythos wies bereits vor dem Nationalsozialismus explizit rassistische und antisemitische Tendenzen auf.

Heimatschutz und Nationalsozialismus

Die Bilder einer überragenden deutschen Waldnation hatten mit dem Zustand der Waldflächen in dieser Zeit wenig gemein. Seit dem Mittelalter kam es durch Brennholzeinschlag, Weidenutzung, Ackerbau und Bergbau zu einer konstanten Übernutzung des Waldes. Vormittelalterliche Mischwälder waren kaum noch vorhanden, aufgeforstet wurde mit schnellwachsenden Tannen- oder Kiefernarten. Die Landschaft war geprägt von Nadelwald und Kahl- oder Heideflächen.

Die frühen Natur- und eimatschutzbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts kritisierten die Folgen der Industrialisierung wie Abholzung, Umweltverschmutzung und Verstädterung, richteten sich aber vor allem gegen die gesellschaftlichen Umwälzungen. Geprägt von antimodernistischer Zivilisationskritik idealisierten sie eine bäuerliche Idylle und sahen in der Einheit von Volk, Natur und Individuum die Grundlage für eine „deutsche Identität“. Großstädte galten als Feindbilder, die durch Kommerz und „jüdischen Geist“ Entwurzelung und Zerstörung der natürlichen Umwelt förderten. Ein einflussreicher Vertreter dieser Bewegung war Werner Sombart. Er behauptete einen Gegensatz zwischen Nomadismus und Agrikulturismus, zwischen Saharismus und Silvanismus (Waldgegenden). Die Juden waren für ihn ein abstrakt-numerisch denkendes „Wüstenvolk“, das in Wald und Natur nur ein Ausbeutungsobjekt sah. Ihnen stellte er die Deutschen als „Waldvolk“ mit konkret-tiefsinnigem Denken gegenüber.

Dasselbe antisemitische Bild verwendete im Nationalsozialismus Reichsforstmeister, Reichsjägermeister und Oberster Beauftragter für den Naturschutz Hermann Göring in seiner Rede „Ewiger Wald – Ewiges Volk“: „Wenn wir durch den Wald gehen, sehen wir Gottes herrliche Schöpfung, erfüllt uns der Wald mit […] einer ungeheuren Freude an Gottes herrlicher Natur. Das unterscheidet uns von jenem Volke, das sich auserwählt dünkt und das, wenn es durch den Wald schreitet, nur den Festmeter berechnen kann.“ Die vermeintlich natürliche Überlegenheit des germanischen „Waldvolkes“ gegenüber dem jüdischen „Nomaden- und Wüstenvolk“ ließ sich problemlos in die „Blut-und-Boden“-Ideologie einbetten. Aus dieser Sicht besteht eine Verbindung zwischen Volk und Raum, das heißt Menschen sind durch ihre Abstammung an einen bestimmten Ort gebunden und – wie der Wald – in ihm verwurzelt.

Anspruch und Wirklichkeit klafften in der NS-Zeit jedoch weit auseinander: Zwar wurde die Holzwirtschaft auf Dauerwaldwirtschaft umgestellt und es sollten germanische Urwälder entstehen, doch die Kriegswirtschaft führte zu einer extensiven Abholzung der Waldbestände. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion verlagerte sich der Raubbau in die „eingegliederten Ostgebiete“. Propagandistisch wurde jedoch das Gegenteil in den Vordergrund gestellt: Dort sollte großflächig aufgeforstet werden, damit sich das „nordische und deutsche Blut“ der dort anzusiedelnden Wehrbauern in den „öden, baumlosen Kultursteppen“ halten könne. Die ansässige Bevölkerung sollte deportiert oder vernichtet werden, da den „Slawen“ jeder positive Bezug zum Wald abgesprochen wurde.

Nachhaltiger Mythos

Nach 1945 nahm die Verbindung von Wald und Volk, sieht man von Heimatfilmen- und -literatur ab, zunächst keine dominante Position im öffentlichen Diskurs ein. Einige, weniger offen problematische Bezüge, überdauerten jedoch. Dies zeigte sich in der Gründung der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) als Reaktion auf die alliierten „Reparationshiebe“, den Holzeinschlag im Zuge der Reparationsleistungen. Der kriegsbedingte Raubbau der Nationalsozialisten im Rahmen der Kriegspolitik wurde dagegen nicht erwähnt. Die SDW bediente sich auch unreflektiert romantischer Waldbilder von Eichendorff, Arndt oder den Gebrüdern Grimm und bezeichnete die Deutschen weiterhin als Waldvolk. Erst mit dem Aufkommen der neuen Umweltbewegung Anfang der 1970er Jahre wurden solche Naturbilder hinterfragt. Der Schutz des Waldes blieb aber ein wichtiges Thema. In den 1980er Jahren warnten westdeutsche Forstwissenschaftler*innen vor einem großflächigen Waldsterben. Unter dem Schlagwort „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“ vereinigten sich konservative Waldbesitzer*innen und alternative Umweltschützer*innen im Einsatz zur Rettung des Waldes. Die schwarz-gelbe Koalition brachte mehrere umweltpolitische Maßnahmen auf den Weg. Helmut Kohl sah sich dabei motiviert durch ein „sehr spezifisch deutsches Verhältnis zum Wald“.

Wald statt Windrad

Die untrennbare Verbindung von Wald und Volk spielt auch heute in (extrem) rechten Kreisen noch eine wichtige Rolle. So schickte etwa die neonazistische Kleinstpartei Der III. Weg anlässlich der Besetzung des Hambacher Forsts 2018 unter dem Slogan „Umweltschutz ist Heimatschutz“ eine Solidaritätserklärung an die Besetzer*innen. Die AfD-Jugendorganisation Junge Alternative inszenierte sich 2022 mit Transparenten mit der Aufschrift: „Märchenwald bleibt!“ und „Mythos Wald statt Klimawahn“ gegen den Windradbau im hessischen Reinhardswald. Und spielt so das Thema Wald- gegen Klimaschutz aus.

Auch das „neu-rechte“ Umweltmagazin Die Kehre widmete im Frühjahr 2024 dem Wald einen Schwerpunkt. Chefredakteur Jonas Schick, Aktivist der Identitären Bewegung und mittlerweile beim AfD-Bundestagsabgeordneten René Springer beschäftigt, hebt darin die Bedeutung des bereits erwähnten Wilhelm Heinrich Riehl für die deutsche Rechte hervor. Der Wald sei „formgebender Faktor der Volksseele“ und der Liberalismus als Zerstörer dieser „Volklichkeit“ abzulehnen. Ebenfalls über „Die tiefe Verbindung der Deutschen zum Wald“ referierte der Holocaustleugner und Neonazi-Musiker Axel Schlimper im November 2024 beim Gedächtnisstätte e.V. im thüringischen Guthmannshausen. Der Verein mit Tagungshaus wurde 1992 von der inzwischen verstorbenen Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck gegründet und gilt als bundesweit bedeutender Treff für die (extreme) Rechte.

Auch wenn (extrem) rechte Waldinterpretationen außerhalb dieser Kreise heutzutage kaum verbreitet sind, ist der „Deutsche Wald“ vielerorts ein Symbol für eine unberührte Natur und eine Zeit, in der noch alles in Ordnung war. Wald- und Naturbilder sollten reflektiert und gegebenenfalls hinterfragt werden. Wird der Schutz von Wald und Natur von vornherein als etwas Unpolitisches oder gar automatisch Progressives angesehen, erleichtert das rechten Akteur*innen ihre Ideologien in diesem Feld zu verbreiten.