
„Wandern statt Disco“
Extrem rechte Wanderslust
„Hat Wandern eine besondere Bedeutung für uns Deutsche?“, fragt sich die Gesprächsrunde in dem „Internetradio“-Format „Revolution auf Sendung“ der neonazistischen Kleinstpartei Der III. Weg im Januar 2018 im Schwerpunktthema „Wandern und Sport“. Es überrascht nicht, dass sich ausgerechnet Der III. Weg mit diesem Thema befasst, denn gerade dort wird besonders viel gewandert. Der Beitrag zeigt gut die unterschiedlichen Aspekte, die am Wandern für die extreme Rechte interessant sind.
Spannend ist schon, wer mit der Frage adressiert wird. Gesprächspartner Kai Andres Zimmermann verweist mit Begeisterung auf die „Sportart und Bewegung, die uns Deutschen eigen ist“, und betont die historische Bedeutung der „Wandervogel“-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Hiermit verweist er auf die Geschichte des Wanderns für die extreme Rechte und stellt die eigene Gruppierung gleichzeitig in eine Tradition. Wenn Zimmermann vom „Wandern“ spricht, geht es ihm in erster Linie um Ertüchtigung, und „Sport“ meint vor allem Kampfsport. Neben seiner Funktion als Aktivist fränkischer Der III. Weg-Strukturen ist Zimmermann seit Jahren fester Bestandteil der neonazistischen Kampfsport-Szene und regelmäßiger Teilnehmer neonazistischer „Leistungs- und Gedenkmärsche“ wie dem „Ausbruch 60-Marsch“ in Budapest (siehe S. 12). Bei den völkischen Kadergruppen wie dem Freibund ist Wandern seit jeher fester Bestandteil der Aktivitäten. Innerhalb der neonazistischen Szene ist Wandern in den letzten Jahren insbesondere bei Der III. Weg, den Jungen Nationalisten (JN) und Teilen der NS-Kampfsportszene zu einer zentralen Aktivität geworden. Aber auch bei Strukturen wie der Jungen Alternative (JA) und Gruppen aus dem Spektrum der Identitären Bewegung (IB) ist es inzwischen ein wichtiges Angebot im „vorpolitischen Raum“.
Bündische Tradition
Während „Wandern“ aktuell in der extremen Rechten zum guten Ton gehört, musste die JN-Zeitung Der Aktivist 2009 noch konstatieren, dass „nur noch eine geringe Zahl von Kulturfreunden […] so handeln, wie es für unsere Art üblich ist“. Mit „handeln“ beziehen sie sich auf das Wandern. Denn: „Wandern ist Kultur, Wandern ist Natur und Wandern ist ein Erlebnis, welches die Gemeinschaft festigt und prägt.“ Es ist kein Zufall, dass der Beitrag „Das Wandern ist der Jugend Lust?“ in der Schwerpunktausgabe zur „volkstreuen“ Jugendarbeit veröffentlicht wurde. Unmittelbar nach dem damaligen Verbot der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) war es insbesondere die JN, die versuchte, die entstandene Lücke im Spektrum neonazistischer Jugendarbeit zu schließen.
In völkischen Jugend- und Kadergruppen wie der HDJ oder auch der Wiking Jugend war Wandern fester Bestandteil der Erlebniswelt rund um deren Fahrten und Zeltlager. Diese dienten in Form von Leistungsmärschen neben dem Gemeinschaftserlebnis auch als Disziplinierungsmaßnahme und der Züchtigung des eigenen Nachwuchses. Diese völkischen Gruppen, zu denen heute auch der Sturmvogel – Deutscher Jugendbund oder Der Freibund zählen, stellen sich in die Tradition der „Wandervogel“-Bewegung und der „Bündischen Jugend“. Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts waren es Jugendliche, die Wanderungen in der Natur der bürgerlichen Gesellschaft entgegenstellten. Kameradschaft und Männerbund gehören neben der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt zu den wichtigen Charakteristika der Bündischen. Im Nationalsozialismus gingen viele bündische Jugendgruppen in der Hitlerjugend (HJ) auf. Gewandert wurde dort ja schließlich auch…
Funktionen
Die Wanderangebote der Szene werden durch Naturverbundenheit und die Bezugnahme auf „Heimat“ und den „deutschen Wald“ ideologisch und identitätspolitisch aufgeladen (siehe den Beitrag auf S. 14 ff.). Wandern schafft Gemeinschaftsmomente und gilt für die extreme Rechte als Gegenentwurf zur Moderne, zu „multikulturellen Großstädten“ und zur „degenerierten Spaßgesellschaft“. „Die schöne Landschaft unserer Heimat bietet dabei einen erholsamen Kontrast zu den überfremdeten Betonschluchten der Großstädte, aus denen die meisten Teilnehmer kommen“, resümiert exemplarisch die IB in Baden-Württemberg nach ihrer Sommerwanderung im September 2024.
Die Wanderungen führen nicht selten zu „historischen“ oder „mystisch“ aufgeladenen Orten „deutscher Geschichte“. So führte beispielsweise die „Sommerwanderung im Teutoburger Wald“ der JA-Lippe im Juli 2024 zu den Externsteinen. Diese sind nicht nur ein beliebtes touristisches Ausflugsziel, sondern fungieren in der extremen Rechten als heiliger Ort der Germanen und stellen für sie das Erbe einer hochstehenden Kultur und vermeintlichen Rasse dar. Und wie man es schafft, auch ohne historische Orte eine Waldwanderung ideologisch aufzuladen, zeigte die Rheinlandbande im Rahmen der queerfeindlichen „Stolzmonat“-Kampagne. Kein Bannerdrop, kein Graffiti oder eine Störaktion, sondern „wir [sind] raus gegangen unzwar wandern! Wir haben Steine bemalt mit Deutschland Flaggen und einer einheitlichen normalen Familie, die sich vor dem Gender-Wahnsinn wehrt. Die bemalten Steine verteilten wir auf unserem Wanderweg und hoffen das diese Motive ihre Runde durch Deutschland machen.“ Die Rheinlandbande fungiert als lokale JN-Struktur im Rhein-Sieg-Kreis (vgl. LOTTA #96, S. 32 f.). Unironisch wird als offizielles Motto „Wandern statt Disco“ propagiert. Der Disco als Ort des Hedonismus, der vermeintlich verweiblichten Spaßgesellschaft und oberflächlichen US-amerikanischen Kultur wird das „echte“ und „natürliche“ Wandern entgegengestellt.
Praxen
Wandern hat für die extreme Rechte auch praktische Vorteile. Im Gegensatz zu Stammtischen und Vortragsveranstaltungen ist es nicht an physische Räume, die durch antifaschistische Proteste angreifbar sind, gebunden. Daher können Wanderungen in der Regel ungestört stattfinden. Bei den Veranstaltungen, die jenseits der Öffentlichkeit stattfinden, scheinen sich die Teilnehmenden wie kaum bei anderen Aktivitäten „sicher“ zu fühlen. Dies führt dazu, dass regelmäßig Neonazis auftauchen, die seit Jahren nicht mehr auf öffentlichen Veranstaltungen gesehen wurden.
Wie gewandert wird, ist unterschiedlich. Kleinere Tageswanderungen, bei denen keine sportlichen Hochleistungen erwartet werden, sondern die ein niedrigschwelliges Angebot an Interessierte darstellen, werden in den letzten Jahren oftmals auch von der JA angeboten. Bei den Gruppen der IB wird regelmäßig und thematisch gewandert. Gerade im Bereich des Neonazismus ist die Leistung, also der Marsch, das bestimmende Element. Für die JN gehört seit Jahrzehnten das Absolvieren von Leistungsmärschen zum festen Repertoire ihres Aktivismus’ (siehe S.13). Natürlich existiert auch ein eigenes Regelwerk um ein „JN Marschabzeichen“ zu erhalten. Dieses sieht vor, eine Strecke von 50 Kilometern innerhalb von zwei Tagen zu absolvieren. „Eine Übernachtung im Freien ist immer ein zentraler Punkt des stattfindenden Marsches, um das Naturerlebnis für die jungen Kameraden noch zu steigern.“ Neben der Streckenlänge gibt es auch eine Gepäckvorgabe. Laut interner Vorgabe ist über den gesamten Marsch „von den Jungen ein Marschgepäck von mindestens 15 kg einzuhalten. Für die Mädel gilt die Gepäckvorgabe von 12,5 kg.“ Passenderweise am Wochenende des April 2024 organisierte die JN zuletzt einen zweitägigen Leistungsmarsch um das Steinhuder Meer (Niedersachsen). Unter den Teilnehmenden des 50-Kilometer-Marsches befanden sich auch Mitglieder der Jungen Alternative.
Weg-Wanderung
Innerhalb des organisierten Neonazismus ist es insbesondere die Partei Der III. Weg, die mit einer Vielzahl von Wanderungen und Leistungsmärschen auffällt. Allein die pfälzischen Aktivisten aus dem Umfeld von Parteigründer Klaus Armstroff um den Stützpunkt Pfalz gehen etwa alle vier Wochen auf Wanderschaft zu Bauwerken aus der Zeit des Nationalsozialismus oder Kriegsdenkmälern. Nicht jeder dieser Ausflüge erfährt die Würdigung eines eigenen Erlebnisberichtes. Diese sind besonderen Gewaltmärschen vorbehalten, die die eigene Leistungsbereitschaft unter Beweis stellen sollen. Für die mediale Aufarbeitung werden ein paar Fitnessübungen oder romantisierende Panoramabilder als Heimatdarstellungen inszeniert.
Neben der Selbstinszenierung haben diese Wanderungen aber noch eine weitere Bedeutung. Trotz des exklusiven Gehabes ist auch Der III. Weg auf Nachwuchs angewiesen. Die Wanderveranstaltungen sind ideal, um Interessierte kennenzulernen und das eigene elitäre Selbstbild zu festigen. Darum ist es nicht verwunderlich, dass bei den Wanderausflügen des sonst elitär auftretenden Der III. Weg auch Mitglieder der JA oder weiterer Vorfeldorganisationen der extremen Rechten auftauchen. Nicht selten nehmen Neonazis auch die eigenen Kinder mit zu ihren Wanderungen.
Wanderer und Kämpfer
Dass es sich bei den Wanderaktivitäten der extremen Rechten nicht nur um gemütliche gemeinschaftliche Spaziergänge handelt, sondern dass die körperliche Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit eine zentrale Rolle einnimmt, zeigt sich einmal mehr an den Bezügen in die NS-Kampfsportszene. Mitglieder extrem rechter Kampfsportgruppen und Teilnehmer von Events wie dem Kampf der Nibelungen finden sich bei den Leistungsmärschen der Szene wieder. Mit der AG Körper & Geist existiert bei Der III. Weg eine parteiinterne Struktur, bei der Kampfsport gleichberechtigt neben Angeboten zu Wanderungen und Leistungsmärschen steht. Schon Anfang der 2010er Jahre hatte der für die damalige NS-Kampfsportszene internationale Stichwortgeber Denis „Nikitin“ Kapustin bei seiner Marke White Rex in ihren ersten Kollektionen mit dem Label „Vandals – Wanderer Division“ ein explizites Angebot mit Wander- und Outdoorbezügen.
Auch die 2017 gegründete Marke Resistend Sportswear richtet sich mit schlichtem Design an ein Fitness- und Outdoor-Publikum. Immer wirbt die Marke mit Bildern von Wanderungen und Bergsport. Als Werbeträger dienen neben Mitgliedern der neonazistischen Kampfsportszene um Gruppen wie Wardon 21 auch der extreme rechte Mulitaktivist Frank Kraemer und der Berliner NPD-Funktionär Sebastian Schmidtke. Dieser inszeniert sich über sein Medien- und YouTube-Format LebensART.tv als rechter Möchtegern-Influencer zu den Themen Wanderungen, Outdoor, Survival und „Krisenvorsorge“. Im Rock Hate Forum bei Telegram weiß Schmidtke zu analysieren: „Deutscher und männlicher als Wandern geht nicht.“
Wandergruppen
Die Wanderbegeisterung der Szene hat in den letzten Jahren auch dazu geführt, dass nicht „nur“ Angebote aus den bestehenden Organisationen heraus gemacht wurden, sondern sich Strukturen herausgebildet haben, für die Wandern zumindest nach außen im Zentrum steht. Es sind bundesweit verschiedene extrem rechte „Wanderjugend“-Gruppen entstanden. Oftmals mit eigenen Social Media-Accounts („Wanderjugend_xyz“), auf denen Landschafts- und Gruppenbilder der gemeinsamen Ausflüge zu sehen sind. Zumeist gepaart mit pathetischer völkisch-nationalistischer Natur- und Heimat-Ästhetik. Auch wenn einige dieser Accounts mehr Schein als Sein sind, haben sich in einigen Regionen feste rechte Wanderstrukturen gebildet.
So sind es Gruppen wie Deutsche Wandervögel aus Baden-Württemberg oder die Wanderjugend Oberlausitz (WJO) aus Ostsachsen, die regelmäßig Wanderausflüge anbieten. Das Antifa-Portal Recherche Ostsachsen bezeichnet die zirka 2020 gegründete WJO innerhalb der Szene als eine Art „Role Model“, die nach innen konspirativ organisiert ist, nach außen „das Spektrum rechter Organisierung und Brauchtumspflege durch das Wiederbeleben der Wanderjugenden erweitert“. Wenn Mitglieder der WJO nicht mit Gitarre, Liederbuch und in bündischem Look auf Wanderschaft gehen, steigen sie unter anderem als Kämpfer bei neonazistischen Kampfsportevents in den Ring oder finden sich bei Gedenkmärschen und Demonstrationen der Szene. Mit der Wandervereinigung West (WVW) hat sich jüngst auch eine eigene Wanderstruktur in NRW herausgebildet, die mittlerweile auch nach Hessen hineinwirkt.
West
Die WVW existiert seit Oktober 2023 in Form eines Telegram-Kanals, mit einem Instagram-Profil und Chats. Die Initiatoren der Gruppe, die in ihren „Leitlinien“ propagieren, dass sie bei ihren Aktionen als „der ideale Deutsche aus einer anderen und besseren Zeit“ wahrgenommen werden wollen, stammen aus dem Umfeld der JA-Strukturen aus dem Ruhrgebiet und Südwestfalen. So gehörte auch die Teilnahme beim Volkstrauertag-Gedenken der JA Arnsberg mit Björn Höcke und Matthias Helferich am 18. November 2023 auf der Hohensyburg zu ihren ersten Aktionen. Die erste von insgesamt neun Wanderungen folgte dann Anfang Januar 2024 rund um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica.
Die WVW tritt eher konspirativ auf und auch wenn man „keine Sekte, kein Kult, kein Neo-Nazi-Club“ sein will, müssen die Teilnehmenden darauf hingewiesen werden, sich „gesetzeskonform“ zu verhalten und „die geltenden Gesetze und Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland zu beachten und einzuhalten.“ Die WVW stammt zwar aus dem Umfeld der JA und „neurechter“ Netzwerke, die sich um Matthias Helferich in NRW gebildet haben, aber bei ihren Aktionen scheinen alle Spektren der extremen Rechten willkommen zu sein. Schon bei der zweiten Wanderung der WVW trugen Teilnehmende Bekleidung neonazistischer Marken wie vom Kampf der Nibelungen. Stolz wurde im November 2024 verkündet, dass mit der Ortsgruppe Südwestfalen-Hessen die „Gemeinschaft weiter wachsen wird“.
Verbindend
Dass aus der Szene eigene „Wandergruppen“ jenseits der bestehenden Strukturen ins Leben gerufen werden, ist nicht neu. Mitte der 1990er Jahre gründeten im Raum Cottbus einige Neonazis die Wanderjugend Gibor (WJG). Gemeinschaftserlebnisse in der freien Natur in Verbindung mit körperlicher Ertüchtigung standen im Vordergrund der Gruppe. Auch wenn sie ästhetisch wie eine „klassische“ völkisch-bündische Wandergruppe in Erscheinung trat, beschrieb das Antifaschistische Info Blatt diese vielmehr als Scharnierorganisation für das neonazistische Spektrum. Viele der Teilnehmenden an den Aktivitäten der WJG hatten ihren politischen Schwerpunkt in anderen Gruppen und Projekten.
Und auch heute lässt sich bei den Wanderaktivitäten und bei den jüngst gegründeten Wandergruppen feststellen, dass über das gemeinsame Wandern unterschiedliche Akteure und Altersklassen der extremen Rechten wie kaum bei anderen Events zusammenkommen. Gemeinschaftserlebnisse für den militanten Neonazi über die JA zu den Traditionalisten der völkischen Gruppen. Wirft man beispielsweise einen Blick auf die Gruppe Neonazis, die am 15. Juli 2023 bei einer konspirativ organisierten Wanderung im Bremer Umland von der Plattform Recherche Nord dokumentiert wurde, fanden sich dort neben Multi-Aktivist Mario Müller, zu dem Zeitpunkt Mitarbeiter der AfD-Bundestagsfraktion, Mitglieder von NPD/Die Heimat, JN, Der III. Weg, der Identitären Bewegung aus Ostwestfalen-Lippe, der NS-Kampfsportszene und langjährige Kader der Neonazi-Szene wie Henrik Ostendorf. Wer bei dem Ausflug nicht fehlen durfte, war wieder einmal der eigene Nachwuchs. So brachten Teile der illustren Runde ihre Kinder mit, um der NS-Kultstätte „Stedingsehre“ einen Besuch abzustatten.