Intergeschlechtlichkeit / Intersex
Ein Ende der geschlechtszuweisenden Eingriffe im Säuglingsalter ist dringend nötig
Seit Jahren gibt es massive Proteste intergeschlechtlicher Menschen gegen die geschlechtszuweisenden medizinischen Eingriffe, die Säuglinge und Kleinkinder mit nicht-typischen Geschlechtsmerkmalen über sich ergehen lassen müssen. Diese Eingriffe sind medizinisch nicht notwendig. Lediglich in wenigen Fällen liegen tatsächlich die Gesundheit bedrohende Situationen (wie Salzverlust) vor, die eine medizinische Behandlung erfordern – aber selbst dann sind keine medizinischen Behandlungen erforderlich, die das Genital vereindeutigen.
Nachdem ein Ausschuss der Vereinten Nationen die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert hat, Menschenrechte für Intergeschlechtliche im Land herzustellen, hat die Bundesregierung endlich reagiert und zunächst den Deutschen Ethikrat mit einer Stellungnahme beauftragt – und mittlerweile weitere Initiativen ergriffen. Im Folgenden werden der bisherige gesellschaftliche Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen in der Bundesrepublik skizziert, der durchaus problematisch ist, und die aktuellen Entwicklungen erläutert.
Begriffe und aktuelle medizinische Praxis
Intersex beziehungsweise Intersexualität bedeutet, dass die körperlichen Geschlechtsmerkmale eines Menschen nicht eindeutig als weiblich oder als männlich eingeordnet werden können. Ein Mensch befindet sich zwischen (Inter-) den zwei Geschlechtern (-sex). Lange Zeit und noch immer ist statt Intersex auch der Begriff Hermaphrodit gebräuchlich, dessen Definition offener ist. Hermaphrodit erlaubt gleichermaßen die beiden folgenden Definitionen, nämlich erstens, dass sich ein Mensch zwischen den zwei Geschlechtern „weiblich“ und „männlich“ befindet, und zweitens, dass ein Mensch gleichzeitig „weiblich-und-männlich“ ist. Aktuell fordern die Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen, von dem Begriff Intersexualität im Sprachgebrauch abzugehen und stattdessen Intergeschlechtlichkeit zu verwenden. Damit solle der Verwechslungsgefahr vorgebeugt werden, die sich im populären Sprachgebrauch ergebe. So könnte Intersexualität als eine Form sexuellen Begehrens missverstanden und damit der eigentliche Inhalt – physisches Geschlecht – vernebelt werden. Im Sinne der Definitionshoheit, die Selbstorganisationen zukommt, gilt es, dieser Forderung im emanzipatorischen Sprachgebrauch auf jeden Fall nachzukommen.
Seit den 1950er Jahren liegt ein „medizinisches“ Behandlungsprogramm vor, mit dem Intergeschlechtliche im Regelfall bereits im Säuglings- oder frühen Kindesalter geschlechtlich vereindeutigt werden sollen. Dabei stehen insbesondere die Genitalien im Mittelpunkt. Vorausgesetzt wurde in den 1950er Jahren, dass ein Kind nur bei geschlechtlich eindeutigen Genitalien eine reguläre psychische Entwicklung als „Mädchen“ oder aber als „Junge“ durchlaufen könne; es sei nur dann in der Lage, eindeutig eine der gesellschaftlich existierenden Geschlechtsrollen anzunehmen. Schon wenn ein Mensch homosexuell war, wurde das (bis vor kurzem!) so interpretiert, dass ein Mensch keine eindeutige Geschlechtsrolle angenommen habe.
Von dieser Sicht ausgehend galt es in der Medizin als sinnvoll, geschlechtszuweisende operative Maßnahmen bereits in den ersten Lebensmonaten zu vollziehen und auch dann bereits hormonelle Interventionen einsetzen zu lassen. Möglichst bis zum 18. Lebensmonat sollten die wesentlichen chirurgischen Eingriffe vollzogen sein, da von diesem Zeitpunkt bis etwa zum 4. Lebensjahr das Kind sich geschlechtlich wahrnehme und am intensivsten eine eindeutige Geschlechtsrolle erlerne.
Die geschlechtszuweisenden Maßnahmen beschränkten und beschränken sich dabei allerdings nicht auf eine einmalige Operation. Vielmehr finden bei den meisten Intersexen mehrere chirurgische Eingriffe statt. In vielen Fällen wird es durch die Entfernung der Keimdrüsen (Hoden- und Eierstockgewebe) erforderlich, dass Intergeschlechtliche zeitlebens Hormone einnehmen. Meist wurde ein „weibliches Genital“ hergestellt, weil es als einfacher galt, „ein Loch zu bohren“, als „einen Pol aufzustellen“. Weibliches Geschlecht herstellen bedeutete dabei aber auch, dass lange Zeit auf sexuelle Erregbarkeit keine Rücksicht genommen wurde. Als bedeutsam galt das „normale“ Erscheinungsbild des Genitals, die Klitoris wurde oft vollständig entfernt. Eine neu angelegte Vagina sollte geweitet werden, damit sie nicht zuwächst. Auch das Weiten, das mit Dildo-ähnlichen Gegenständen oder einem Finger durch die Eltern geschehen konnte, sollte im frühen Kindesalter einsetzen. Aber auch wenn ein „männliches Genital“ hergestellt wurde, ergaben sich oft Komplikationen, und die Behandlungen werden von den betroffen-gemachten Menschen kritisiert.
Die so behandelten Menschen beschreiben die Behandlungen meist als Gewalterfahrungen und traumatisierende Ereignisse. Neben den körperlichen Schmerzen beschreiben sie Verängstigungen, die sich bei ihnen und bei ihren Geschwistern dadurch ergaben, dass sie selbst oft ins Krankenhaus mussten – ihnen aber niemand mitteilte, warum das eigentlich notwendig war. Auch das Nicht-Informieren war in der Behandlung angelegt. So sollte vermieden werden, dass das Kind bei der Annahme einer eindeutigen Geschlechtsrolle verunsichert werden könnte. Auch die mittlerweile zahlreich vorliegenden medizinischen Untersuchungen der Behandlungsergebnisse und der Zufriedenheit der Behandelten stützen die Beschreibungen der intergeschlechtlichen Menschen. In seiner Stellungnahme hält der Deutsche Ethikrat fest: „Etliche Betroffene sind aufgrund der früher erfolgten medizinischen Eingriffe so geschädigt, dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert.“
Aktuelle Entwicklungen
Nachdem die Bundesregierung in einem Schnellschuss eine Änderung des Personenstandsgesetzes bezüglich Intergeschlechtlichkeit durchgesetzt hat, kommen nun auch weiterreichende Auseinandersetzungen in Gang. Die Bundesregierung hatte – mit ihrer Regierungsmehrheit im Bundestag – beschlossen, den Artikel 22 des Personenstandsgesetzes um die folgende Passage zu erweitern: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstand [...] ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“ Diese Neuregelung wurde von den Verbänden intergeschlechtlicher Menschen sofort beanstandet. Sie kritisieren unter anderem, dass es sich nur um ein „Ablenkungsmanöver“ handele, um ihren tatsächlich wichtigen Forderungen nicht nachkommen zu müssen. Die zentrale Forderung nach dem Ende der gewaltsamen und traumatisierenden geschlechtszuweisenden medizinischen Eingriffe werde nicht umgesetzt, die Medizin behalte die Oberhoheit im Diskurs über Intergeschlechtlichkeit. Zudem seien mit der Regelung problematische Auswirkungen wie Zwangsoutings intergeschlechtlicher Kinder verbunden, da bei Anmeldungen bei Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen stets das Geschlecht des Kindes – „weiblich“ oder „männlich“ – angegeben werden müsse. Es seien somit weiterreichende Regelungen nötig.
Unterdessen hat der „UN-Sonderberichterstatter bzgl. Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung“ seine Kritik an den geschlechtszuweisenden Praktiken bei Intergeschlechtlichkeit erneuert. Die wiederholten Kritiken aus Gremien der UN hatten, nachdem intergeschlechtliche Menschen lange dafür gestritten hatten, überhaupt erst dazu geführt, dass die Bundesregierung handeln musste und den Deutschen Ethikrat mit einer Stellungnahme beauftragte. Der UN-Sonderberichterstatter Juan E. Méndez kritisiert in seinem Bericht vom Februar 2013 deutlich die normalisierenden medizinischen Behandlungspraktiken, die oft zu schweren Schädigungen der behandelten Personen führten. Dabei wendet er sich in eigenen kurzen Abschnitten explizit gegen die gewaltvollen und traumatisierenden Geschlechtszuweisungen bei intergeschlechtlichen Menschen. In einem weiteren Abschnitt kritisiert er ebenso klar die sich gegen Transgender richtenden sterilisierenden Eingriffe.
Diesen Kritiken trägt die Bundesregierung nach wie vor nicht Rechnung. Vielmehr finden in Krankenhäusern der Bundesrepublik Deutschland noch immer die geschlechtszuweisenden Eingriffe statt – und auf diese Weise werden Menschen so stark geschädigt, dass sie meist lebenslang medizinischer Behandlung bedürfen. Das hat die Opposition im Deutschen Bundestag mittlerweile wahrgenommen. So brachten sowohl die Fraktion Die.Linke als auch die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen untereinander abgestimmte Anträge in den Bundestag ein, die neben weiteren wichtigen Punkten das Verbot der geschlechtszuweisenden Eingriffe fordern. In den Anträgen heißt es unter anderem: „Intersexuelle Menschen sollen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anerkannt und dürfen in ihren Menschen- und Bürgerrechten nicht länger eingeschränkt werden. […] Der Deutsche Bundestag sieht und erkennt erlittenes Unrecht und Leid, das intersexuellen Menschen widerfahren ist, an und bedauert dies zutiefst. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher dazu auf, sicherzustellen, dass geschlechtszuweisende und -anpassende Operationen an minderjährigen intersexuellen Menschen vor deren Einwilligungsfähigkeit grundsätzlich verboten werden.“
Es bleibt zu hoffen, dass so schnell wie möglich eine akzeptable Regelung erzielt werden kann, die den Forderungen intergeschlechtlicher Menschen und den Kritiken der Vereinten Nationen an den Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland Rechnung trägt. Dafür gilt es, weiterhin Aufklärungsarbeit zu leisten und Menschen in unserem Umfeld für die Forderungen intergeschlechtlicher Menschen zu sensibilisieren.
Weitere Informationen
Informationsseiten von Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen:
www.intersexuelle-menschen.net
Empfehlenswerte Dokumentationen:
Das verordnete Geschlecht.
www.das-verordnete-geschlecht.de
Die Katze wäre eher ein Vogel.
www.die-katze-ist-kein-vogel.de
Weiterlesen
Völling, Christiane (2010): „Ich war Mann und Frau“: Mein Leben als Intersexuelle. Köln: Fackelträger-Verlag.
Klöppel, Ulrike (2010): XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: Transcript Verlag.
Voß, Heinz-Jürgen (2012): Intersexualität – Intersex: Eine Intervention. Münster: Unrast-Verlag.