Hammer Klüngel

Gefälligkeitsstudie gegen Projektstelle?

Eine Auftragsarbeit, von der beide Seiten profitieren: Der Auftraggeber, Thomas Hunsteger-Petermann (CDU), Oberbürgermeister der westfälischen Großstadt Hamm, bekam ein „wissenschaftliches Gutachten“, welches das von städtischer Seite über Jahre klein geredete Problem mit den lokalen Neonazis herunterspielt. Als Bonus richtet es sich zugleich gegen „Türkischen Nationalismus“, „Salafismus“ und nicht zuletzt die „gewaltbereite Antifa“. Die Auftragnehmerin, Politikwissenschaftlerin Claudia Luzar, nach ihrem Rausschmiss bei der Opferberatungsstelle „BackUp“ ohne feste Anstellung, übernahm im Gegenzug die Leitungsfunktion einer neu geschaffenen Fachstelle zur „Deradikalisierung“.

Eine Auftragsarbeit, von der beide Seiten profitieren: Der Auftraggeber, Thomas Hunsteger-Petermann (CDU), Oberbürgermeister der westfälischen Großstadt Hamm, bekam ein „wissenschaftliches Gutachten“, welches das von städtischer Seite über Jahre klein geredete Problem mit den lokalen Neonazis herunterspielt. Als Bonus richtet es sich zugleich gegen „Türkischen Nationalismus“, „Salafismus“ und nicht zuletzt die „gewaltbereite Antifa“. Die Auftragnehmerin, Politikwissenschaftlerin Claudia Luzar, nach ihrem Rausschmiss bei der Opferberatungsstelle „BackUp“ ohne feste Anstellung, übernahm im Gegenzug die Leitungsfunktion einer neu geschaffenen Fachstelle zur „Deradikalisierung“.

Am 23. Februar 2015 stellten Claudia Luzar und Co-Autorin Nina Lohmann erstmals ihr Gutachten mit dem Titel „Hammer Verhältnisse. Eine Analyse zum Radikalismus und sozio-kulturellen Konflikten“ in der Sitzung des Kinder- und Jugendhilfeausschuss der Öffentlichkeit vor. Das Gutachten war im Februar 2013 in Auftrag gegeben worden, nachdem der Kinder- und Jugendhilfeausschuss ein „Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus“ der Stadtverwaltung abgelehnt hatte, weil es nach Ansicht der Politiker_innen von SPD, Die Linke und Grünen das Neonazi-Problem in Hamm verharmlose. (vgl. LOTTA #51, S. 4)

Roland Koslowski, Ratsherr der Partei Die Linke im Hammer Stadtrat, ist sauer, wenn er auf die Sitzung am 23. Februar zurückblickt: „Das Vorgehen der Verwaltung ist eine Unverschämtheit, nicht demokratisch und eher Gutsherrenart.“ Im Anschluss an das Referat von Luzar sollte der Ausschuss über eine Beschlussvorlage der Verwaltung abstimmen. Deren Inhalt: die Bewilligung eines städtischen Eigenanteils von 157.080 Euro, mit dem die Arbeit des neu zu schaffenden Projektes „No Trouble! Trainings- und Beratungsmethoden zur Deradikalisierung und Ausstiegshilfe“ beim Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Hamm e.V. bezuschusst werden sollte. Der städtische Eigenanteil ist Voraussetzung für die Förderung des bis 2019 laufenden „Modellprojekts“ aus den Mitteln des Bundesprogramms „Demokratie leben!“, welches 80 Prozent der mit 785.000 Euro veranschlagten Summe stellt.

Doch die Mitglieder des Ausschusses wurden vor der Sitzung nur unzureichend informiert. Nach Angaben von Koslowski erhielten sie das 98-seitige Gutachten lediglich als Tischvorlage, die Beschlussvorlage wurde ihnen erst am Tag der Sitzung vorgelegt. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Gutachten und dem Projekt „No trouble!“ war ihnen also nicht möglich. Dennoch stimmten sie geschlossen für die Vorlage der Verwaltung, auch weil man, so Koslowski, das Gefühl hatte, nicht gegen ein Programm gegen Rechtsextremismus stimmen zu können. Erst nach der Entscheidung äußerten Die Linke und die Grünen deutliche Kritik.

Geschicktes Timing

Wenige Tage nach der Sitzung wurde der Antrag für „No trouble!“ endgültig bewilligt. „Der Zuwendungsbescheid an den Träger wurde am 26.02.2015 erstellt und per Post versandt“, teilt das für das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ verantwortliche Bundesfamilienministerium auf Anfrage der LOTTA mit. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Stadtverwaltung absichtlich einen Zeitplan erstellte, der eine öffentliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit des Projektes bis zur Entscheidung beim Bundesfamilienministerium verhinder­te. Während Luzar in ihrem Gutachten ausdrücklich die Einrichtung einer „Fachstelle zur Förderung von Deradikalisierungsprozessen“ empfiehlt, nutzt die Stadtverwaltung das Gutachten ihrerseits als Legitimation: „Das Extremismus-Gutachten des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld empfiehlt als Maßnahme für die Jugendhilfe ein Ausstiegsprojekt für extremistische und radikalisierte Jugendliche. Die Verwaltung greift die Projektempfehlung auf und empfiehlt eine Kofinanzierung des Projektes ‘No Trouble!’.“

Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) war jedoch nicht an der Erstellung des Gutachtens beteiligt. Institutsleiter Andreas Zick erklärte auf Anfrage der LOTTA: „Frau Luzar ist schon länger nicht mehr Mitarbeiterin des IKG. Wir kennen das Gutachten nicht und können das gar nicht beurteilen.“ Die Verantwortung für das Gutachten tragen demnach alleine die beiden Autorinnen.

Noch in der Ausschusssitzung am 23. Februar teilte Jugendamtsleiter Raoul Termath auf Nachfrage mit, wer die geschaffene Stelle als „wissenschaftliche Leitung“ bei „No Trouble!“ besetzen wird:“Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, Frau Luzar für diese Aufgabe zu gewinnen.“ Am 1. März trat Luzar ihren neuen Job an.

Ein fragwürdiges Gutachten

Das vorgelegte Gutachten erfüllt nicht die Erwartungen. So kritisieren die Grünen, dass das Untersuchungsthema eigenhändig erweitert wurde, ohne dass dazu der Beschluss eines städtischen Gremiums eingeholt worden sei: Aus einer Themenstellung, „die ursprünglich gegen Rechtsradikalismus gerichtet war“, sei am Ende eine Analyse geworden, „die ausdrücklich auch Linksradikalismus und religiösen Extremismus in gleicher Weise in den Fokus rückt.“ Dabei habe der Rat damals einen von Gerald Thörner (pro NRW) eingereichten Ergänzungsantrag, der forderte, nicht nur die „Opfer rechter Gewalt“, sondern ebenso „linke Gewalt und Ausländergewalt“ zu behandeln, mit 57 gegen eine Stimme abgelehnt, so die Grünen.

Tatsächlich nimmt in dem vorgelegten Gutachten „die Antifa“ breiten Raum ein. Ihr werfen die Autorinnen vor, gewalttätig zu sein und sehen in einem dadurch entstandenen „Links-Rechts-Konflikt“ den Grund für die Gewalt der Neonazi-Szene. Zudem sei der ebenfalls der Antifa zugeschriebene „radikal geführte Protest gegen Rechtsextremismus eine der Ursachen für die Passivität der restlichen Zivilgesellschaft“. „Insgesamt ist es bezeichnend, wie viel Raum der Kritik an der Antifa in einem ‘Gutachten’ zum Rechtsextremismus in Hamm eingeräumt wird und wie oft die Forderung nach Ausgrenzung der Antifa aus den zivilgesellschaftlichen Bündnissen gefordert wird“, bilanziert das antifaschistische Jugendbündnis Haekelclub590 in einer ausführlichen Stellungnahme zum Gutachten. Die Autorinnen des Gutachtens dämonisieren die Antifa als „gewaltbereit“ und „extremistisch“. Stichhaltige Belege für ihre Thesen liefern sie jedoch nicht.

Nicht nach wissen­- schaftlichen Maßstäben

Auch über die Hammer Neonazi-Szene wird in dem Gutachten wenig Substanzielles geschrieben: Die Autorinnen stützen sich vor allem auf Äußerungen von aktiven oder „ausgestiegenen“ Neonazis, mit denen sie Interviews geführt haben wollen. Die Deutungen der Neonazis bleiben meist unwidersprochen, sie werden nicht durch Fachliteratur, Medienberichte oder andere Interviews kontextualisiert. Eine Quellenkritik ist an vielen Stellen nicht erkennbar: von den Interviewten angeführte „Tatsachen“ werden nicht überprüft, was zu erheblichen Verzerrungen führt. Das bemängelt auch der Haekelclub590, der dem Gutachten eine „tendenzielle Verharmlosung der Neonazis“ bescheinigt.

Schwer wiegen auch die methodischen Schwächen der Arbeit: Der „empirische Befund“ soll auf „52 qualitativen Interviews“ und „24 teilnehmenden Beobachtungen“ basieren. Zu diesen Interviews und Beobachtungen findet sich lediglich die Information, dass „demokratische Akteure der Stadtgesellschaft“ und „rechtsextreme Personen“ befragt worden seien. Wer interviewt wurde, ist ebenso intransparent wie die angewandten Methoden der Interviewerhebung und -auswertung. Auch wird weder aus den Interviews wörtlich zitiert, noch Belege für indirekte Zitate aufgeführt. Im Literaturverzeichnis werden die Interviews ebensowenig aufgeführt. Kurz: Die Autorinnen haben keine wissenschaftliche empirische Arbeit vorgelegt.

Die „Deradikalisierung“ von Jugendlichen

Über die genaue Ausgestaltung des Projektes „No trouble!“ ist bislang nur wenig zu erfahren. Das Bundesfamilienministerium schickte auf Anfrage die folgende Kurzbeschreibung des Projektes: „Das Hauptziel des Modellprojekts ist die Deradikalisierung und soziale Integration von Jugendlichen. Bewährte (d.h. möglichst evidenzbasierte) Methoden der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen werden auf das Feld der Radikalisierungsprävention übertragen und dort weiterentwickelt. Mittels einer Manualisierung von Interventionsmöglichkeiten in idealtypischen Situationen, im Rahmen eines Praxishandbuchs, wird der Erfahrungsschatz aus dem Projekt einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.“

Das sind große, effektheischende Worte, die in Kurzform besagen, dass das Projekt sich „radikalisierende“ Jugendliche von ihren „radikalen“ Vorstellungen und Praktiken abbringen will. Am Ende soll ein „Praxishandbuch“ erstellt werden, dass die Methoden und Erfahrungen zusammenfasst. Wann ein Jugendlicher „radikal“ ist und wie sich dessen „Radikalität“ konkret ausdrückt, ist erst einmal unbestimmt. Aus dem Gutachten wird aber deutlich, dass mit den „radikalen“ Jugendlichen nicht nur Neonazis, sondern ebenso Salafist_innen, türkische Nationalist_innen und sogar Antifaschist_innen gemeint sind. Dass sich deren vermeintliche „Radikalität“ aber grundlegend von der anderer unterscheidet, weil sie auf anderen, sich gegenseitig ausschließenden Werten und Idealen basiert und eine grundverschiedene politische und soziale Praxis zur Folge hat, wird nicht berücksichtigt. Stattdessen werden sie als „Radikalisierte“ gleichgesetzt. Letztlich feiert die Extremismustheorie hier – ebenso wie in den Förderrichtlinien des Bundesprogramms – unter dem neuen Label „Deradikalisierung“ ihre Auferstehung.

Die Zielgruppe des Projekts soll laut Beschlussvorlage „vor allem junge Menschen aus Hamm mit beginnender extremer Orientierung und Radikalisierung, die erstmals straffällig wurden“, sein. Dies ist insofern logisch, als dass „No trouble!“ Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe anbietet, von der Erwachsene per Definition ausgenommen sind. Darin zeigt sich besonders in Hinblick auf die Neonazi-Szene in Hamm, deren Protagonist_innen in der Mehrzahl keine Jugendlichen mehr sind, deutlich die Beschränkung des Projektes.

Die Zielgruppe soll auf drei Wegen erreicht werden. Erstens sollen die Maßnahmen von „No trouble!“ von Jugendrichter_innen verhängt werden. Zweitens sollen inhaftierte Jugendliche kurz vor ihrer Entlassung über die sozialen Dienste der Justiz angesprochen werden. Drittens will man Jugendliche über die Institutionen der Jugendarbeit und Jugendhilfe in Hamm erreichen. Es ist im letzten Fall vollkommen unklar, warum sich ein „radikaler“ Jugendlicher freiwillig an einer „Deradikalisierungsmaßnahme“ beteiligen sollte. Zu den pädagogischen Prämissen der konkreten Arbeit mit den Jugendlichen finden sich keinerlei Angaben. Insgesamt ist das Projekt von einer individualistischen Perspektive geprägt, die gesellschaftliche Bedingungen, die den Neonazismus in seiner Entstehung und Ausbreitung begünstigen, ausblendet.

In einer Sondersitzung des Stadtrates am 23. März wurde deutliche Kritik am Gutachten von Vertreter_innen der Linken, der Grünen und der SPD formuliert. Praktische Konsequenzen für die finanzielle Unterstützung des Modellprojektes „No trouble!“ hatte dies jedoch nicht. Die Stadt Hamm will in den nächsten Monaten an ihrem „Handlungsprogramm“ weiterarbeiten.

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