Wir aus Jedwabne

„In Jedwabne (…) kann man sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass das Gedächtnis ein Schla­cht­feld ist. Und davon, wer die Schlacht gewonnen hat“, schreibt Anna Bikont im Nachwort zur deutschen Ausgabe ihres Buches „Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoa“, die 16 Jahre nach der ursprünglichen, polnischen Version erschien.

Obwohl der Titel es nahelegt, handelt es sich nicht um eine historische Studie, die den Ereignissen des 10. Juli 1941 in der kleinen Stadt Jedwabne im Nordosten Polens auf den Grund gehen und klären will, was dort tatsächlich geschah. An jenem 10. Juli, dem Tag, an dem die zuvor sowjetische besetzte Gegend an Nazi-Deutschland überging, verbrannten Menschen aus Jedwabne und Umgebung ihre jüdischen Nachbar:innen in einer Scheune. Bekannt geworden ist dieses Ereignis vor allem durch die Arbeit des polnisch-kanadischen Historikers Tomasz Gross, dessen Buch „Nachbarn“ im Jahr 2000 die bis heute andauernde Debatte um eine polnische Mitverantwortung an der Shoa in Gang setzte. Die Ereignisse des 10. Juli 1941 rekonstruierte Gross vor allem auf Grundlage von Berichten Überlebender und kam zu dem Schluss, dass die deutschen Besatzer für das Massaker keine maßgebliche Rolle spielten. 

Bikont, Mitgründerin der 1989 aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangenen liberalen polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, nahm Gross’ Publikation zum Anlass für eine Recherche, die sie auf beinahe 700 Seiten in Tagebuchform dokumentiert hat. Die Geschichte, die sie erzählt, beginnt am 1. September 2000. Damals kündigt das IPN, das Instytut Pamięci Narodowej („Institut für Nationales Gedenken“) in Polen, eine erneute Untersuchung des Falles Jedwabne an. Es endet am 10. Juli 2004, dem 63. Jahrestag der Morde. In den knapp vier Jahren zwischen diesen beiden Ereignissen spricht Bikont mit allen, die mit ihr über die Ereignisse in Jedwabne im Sommer 1941 sprechen wollen, und auch mit denen, die darüber nicht reden möchten. Unter ihnen sind Täter:innen und Opfer, deren Nachkommen, Lokalpolitiker:innen, Geistliche, Historiker:innen und Soziolog:innen. Gerade diejenigen, die am lautesten darauf beharren, es sei unangebracht, die Geschichte des Massakers in Jedwabne zu thematisieren, scheinen jene zu sein, die am meisten darüber erzählen wollen: dass es die deutschen Besatzer waren, die das Massaker verübten — mal vier, mal 230 von ihnen, mal im Alleingang, mal mit erzwungener Beihilfe der polnischen Bevölkerung. Doch je länger und öfter Bikont mit verschiedenen Menschen spricht, desto deutlicher wird ein anderes Narrativ. Hier geht es nicht mehr um die Erzählung, dass die Täter:innen, von denen viele für ihr Handeln nach dem Krieg verurteilt wurden, in Wirklichkeit unschuldig seien. Diese Frage scheint in der lokalen Erinnerung kaum eine Rolle zu spielen, denn auch, wenn die wenigsten bereit sind, Namen zu nennen, scheinen auch 60 Jahre nach dem Krieg noch viele, die damals in Jedwabne lebten, ganz genau zu wissen, wer am 10. Juli 1941 was getan oder gelassen hat. Vielmehr geht es um die Frage, ob die Tat an sich Unrecht war — denn „die Juden“ hätten „die Polen“ an die sowjetischen Besatzer verraten und deren Deportation nach Sibirien verursacht. Verbrannt worden in der Scheune, so wird Bikont erzählt, seien doch nur diejenigen, die es „verdient“ gehabt hätten.

Die vielen persönlichen Geschichten, die Anna Bikont rekonstruiert und beschreibt, sind eng verknüpft mit der Shoa. Die eigentliche Stärke des Buches liegt aber darin, dass es nicht von der Vergangenheit selbst, sondern der Gegenwart und ihrem Umgang mit dieser Vergangenheit handelt. „Wir aus Jedwabne“ bietet einen spannenden und tiefen Einblick in die erinnerungspolitische Debatte und die gesellschaftliche Gemengelage in Polen, der sonst für Menschen, die weder über persönliche Bezüge noch über Sprachkenntnisse verfügen, zumeist wohl unerreichbar bliebe.

Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoa Suhrkamp 2020 698 Seiten, 34 Euro

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