Marco Kemp (CC BY-NC-SA 2.0 Deed)

Von „Reichsbürgern“, „Selbstverwaltern“ & „Souveränisten“

Eine Geschichte von Begriffen und Klassifizierungen

Die Begründungen, warum die Bundesrepublik angeblich kein legitimer, ja nicht einmal ein real existierender Staat ist, variieren: mal werden pseudojuristische Argumente vorgebracht, mal wird sich auf ein angebliches Naturrecht bezogen, mal wird aus der Bezeichnung Personalausweis geschlussfolgert, dass die BRD eine Firma wäre. Fraglich ist, wie das solchen Überzeugungen verhaftete Milieu zu bezeichnen ist.

Wer von der Fortexistenz des Deutschen Reiches überzeugt ist, gilt gemeinhin als „Reichsbürger“. Im Januar 1871 konstituierte sich das Deutsche Reich als Nationalstaat unter preußischer Führung. Nach dem Sieg über Frankreich ließ sich der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses Versailles zum deutschen Kaiser proklamieren. Als „Reichsgründungstag“ wurde fortan der 18. Januar gefeiert – ein Datum, das extrem rechte Gruppen wie die NPD und Burschenschaften auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des 1945 militärisch besiegten und untergegangenen Deutschen Reiches feierlich begehen.

„Reichsbürger“ — ein historischer Begriff?

Im Gegensatz zu der aufgrund der Niederschlagung der demokratischen Revolution von 1848 nie in Kraft getretenen Paulskirchenverfassung kannte die Verfassung von 1871 den Begriff des „Reichsbürgers“ nicht. Das „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“ von 1913 regelte, dass Deutscher ist, wer die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit besitzt. Letztere wurde „einem Ausländer, der sich in einem Schutzgebiete niedergelassen hat, oder einem Eingeborenen in einem Schutzgebiete“ vergeben, sowie „einem ehemaligen Deutschen, der sich nicht im Inland niedergelassen hat“.

Das Gesetz machte keine konfessionellen Unterschiede. Jüdinnen und Juden waren ebenso Deutsche wie Christen, ein Umstand, den „vaterländische“ Kräfte damals stark kritisierten. Die NSDAP forderte von Beginn an, Jüdinnen und Juden das Deutschsein abzuerkennen. 1935 waren es die Nazis, die dann das „Reichsbürgergesetz“ beschlossen. Das zu den „Nürnberger Gesetzen“ zählende Gesetz differenzierte zwischen dem „Staatsbürger“ und dem höhergestellten „Reichsbürger“, der definiert wurde als „der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen.“ Nur der „Reichsbürger“ sei der „alleinige Träger der vollen politischen Rechte“. Die in folgenden Jahren erlassenen „Verordnungen zum Reichsbürgergesetz“ bildeten die Grundlage der Ausgrenzung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden.

Wiederentdeckung und Selbstbezeichnung

Nach 1945 blieb das Reich für viele extrem Rechte als Sehnsuchtsort bestehen. In der Nachkriegs-Publizistik der extremen Rechten tauchte der Begriff des „Reichsbürgers“ zwar hin und wieder auf, wurde aber in der Regel nur deskriptiv benutzt. Als Selbstbezeichnung bekannt machten ihn vor allem Horst Mahler und Reinhold Oberlercher, zwei Renegaten der 68er-Bewegung, die ihren Weg nach Rechtsaußen gefunden hatten. Zusammen mit dem späteren Berliner NPD-Landesvorsitzenden Uwe Meenen bildeten sie in den 1990er Jahren das Deutsche Kolleg, das u.a. einen „Reichsverfassungsentwurf“ erstellte. 2003 gründete Mahler die Reichsbürgerbewegung.

In der ersten Ausgabe seines „Reichsbürgerbriefes“ veröffentlichte er die „Verkündung der Reichsbewegung“, in welcher der Fortbestand des Deutschen Reiches behauptet und ein „Allgemeiner Volksaufstand“ zu Befreiung der Deutschen gefordert wurde. In dem Dokument hieß es zudem: „Jeder Reichsbürger ist als Teil zugleich auch das Ganze, also das ganze Deutsche Reich, und diesem verantwortlich. Er ist aufgerufen, nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag im Rahmen des ihm Zumutbaren für die Belange des handlungsunfähigen Reiches zu sorgen. Jeder Reichsbürger ist Inhaber der vollen Reichsgewalt solange bis das Reich als solches wieder handlungsfähig ist. Er kann – auf eigene Gefahr – Krieg führen für das Reich, er kann Gesetze für das Reich erlassen, für das Reich die Gerichtsbarkeit ausüben und die Urteile vollstrecken.“

Bereits 1975 hatte Manfred Roeder mit dem von Hitler als Nachfolger bestimmten Großadmiral Karl Dönitz korrespondiert, wobei Dönitz zu verstehen gab, dass er sich nicht als Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches verstehe. „Ich überlasse es ihnen, daraus die rechtlichen Folgerungen zu ziehen“, schloss Dönitz seinen Brief, woraufhin sich Roeder zum „Reichsverweser“ erklärte. Im Jahr 2000 bot er in seinem Rundbrief den Mitstreitenden an, ihnen für 1000 DM eine Ehrenurkunde als „Reichsbürger“ auszustellen. Eine normale Urkunde war für 100 DM zu haben.

Im Spiegel des Verfassungsschutzes

Die Verfassungsschutzbehörden nahmen diese Aktivitäten von Personen aus der Neonaziszene durchaus wahr. Über andere „Reichsbürger“-Gruppen, wie die in vielen Vorgehensweisen ebenfalls stilbildende, 1985 gegründete Kommissarische Reichsregierung, berichteten sie nicht. In den Verfassungsschutzberichten von 1995 bis 2005 standen fast ausschließlich Projekte des Deutschen Kollegs und Mahlers im Mittelpunkt. Auch in den Folgejahren blieb das Interesse gering. 2012 erklärte die Bundesregierung, man beobachte keine „Reichsbürger“-Gruppierungen mit Ausnahme der Exilregierung Deutsches Reich, der Regierung Deutsches Reich, des Freistaats Preußen und der Deutschen Nationalversammlung. „Reichsbürger“ wurden weder als besonders organisiert, noch als ernsthafte politische Bestrebung oder als Gefahr für die Innere Sicherheit bewertet.

Die Ausnahme bildete der Verfassungsschutz Brandenburg, der bereits 2012 der Szene 20 Seiten einräumte. Dieser Kurs änderte sich erst 2016 nach zwei medial stark wahrgenommenen Gewalttaten von Anhängern des Staates Ur, bei denen Polizist:innen verletzt und ein SEK-Beamter sogar getötet wurde. Daraufhin erklärten die Verfassungsschutzbehörden „Reichsbürger und „Selbstverwalter““ zu einem eigenen Sammelbeobachtungsobjekt und einem „Extremismus eigener Art“. Und sie bezifferten erstmals die Zahl der Anhänger:innen mit bundesweit 10.000, ein Jahr später erhöhte sich die Schätzung auf 16.500. Auffällig dabei: Nur 500 bis 600 bzw. 960 dieser Personen wurden als „Rechtsextremisten“ gewertet.

Der Reichsgedanke alleine reicht nicht

Die Verfassungsschutzbehörden tun sich schwer, dieses Spektrum als extrem rechts zu bewerten, weshalb eine eigenständige Extremismus-Kategorie geschaffen wurde. Ihre Argumentation kann indes nicht überzeugen. So erklärt etwa das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass „rechtsextremistische Ideologieelemente“ bei der Mehrheit der Szeneangehörigen nur gering ausgeprägt seien, sieht aber zugleich „Anschlussfähigkeit an antisemitische Erklärungsmuster“. Konkret heißt es dazu: „Die Bandbreite antisemitischer Einstellungen und Äußerungen unter ‚Reichsbürgern‘ und ‚Selbstverwaltern‘ reicht dabei von Schuldzuweisungen Einzelner, die ‚die Juden‘ für die Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische sowie durch Codes und Chiffren transportierte Verschwörungstheorien, wonach zum Beispiel der Erste Weltkrieg von ‚den Juden‘ geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust.“ Aber im Kern, so wird weiter ausgeführt, ginge es doch um „die fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung.“

Auch der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz sah 2016 keine „in sich geschlossene ‚Reichsbürger‘-Ideologie“ und nur „einzelne Berührungspunkte oder Parallelen zur rechtsextremistischen Weltanschauung“. Wesentliche Kernelemente des Rechtsextremismus wie Rassismus und Antisemitismus könnten nur in Einzelfällen oder in Ansätzen festgestellt werden. Im Zentrum stehe der „geschichtsrevisionistische Reichsgedanke“. Nicht nur, dass sich die zitierten Verfassungsschutz-Bewertungen hinsichtlich der Bedeutung des Antisemitismus gravierend unterscheiden, es ist auch nicht nachvollziehbar, warum eine quasi widerspruchsfreie Weltanschauung vorausgesetzt wird, um ein Phänomen als extrem rechts zu werten. Ebensowenig leuchtet ein, warum die Wiederherstellung des „Deutschen Reiches“ in alten Grenzen alleine nicht zur Klassifizierung als extrem rechts genügen soll.

„Selbstverwalter“

Zugleich spiegelt sich in den Ausführungen aber auch die Wahrnehmung eines irgendwie diffusen Charakters dieser Szene wider, in der sich Erzählungen und Argumentationslinien vielfach wandeln und häufig voneinander unterscheiden. Die esoterischen Bezüge vieler Akteure zeigen, dass wir es hier auch mit einem Phänomen des politischen Irrationalismus zu tun haben. Der Begriff „Selbstverwalter“, der in der Regel nicht als Eigenbezeichnung genutzt wird, soll ausdrücken, dass nicht alle die Fortexistenz des Deutschen Reiches behaupten. Für manche stellt es überhaupt keinen Bezugspunkt dar. Erzählungen wie jene von der „BRD GmbH“, in welcher die Bundesrepublik kein Staat ist, sondern bloß ein Privatunternehmen, zu dem man folglich nur Geschäftsbeziehungen unterhalten könne, sind weit verbreitet. Damit verbunden ist die Vorstellung, man könne kraft eigener Willensbekundung aus dem „System“ aussteigen, sich per „Lebenderklärung“ zum „freien Menschen“ erheben, „Souveränität“ zurückerlangen und sich selbst verwalten.

Der „Selbstverwalter“-Begriff verweist zudem auf das Konglomerat an Bezügen, mit denen die eigene „Souveränität“ behauptet wird und die nicht alle mit der deutschen Geschichte verbunden sind. Im US-amerikanischen Kontext werden „Selbstverwalter“ als „souvereign citizens“ bezeichnet, die von der Illegitimität der US-Bundesregierung überzeugt sind. Ein aktueller Import aus dem US-amerikanischen Raum ist die QAnon-Verschwörungserzählung, die während der Covid19-Pandemie von Teilen des „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Milieus aufgegriffen und popularisiert wurde. Dadurch veränderte sich bei einigen die Wahrnehmung der USA, wie der Politikwissenschaftler Jan Rathje anhand einer in „Reichsbürger“-Kreisen verbreiteten positiven Deutung der geplanten NATO-Übung „DefenderEurope2020“ aufzeigte, der zufolge „Trumps Truppen gekommen seien, um das deutsche Volk vom ‚Deep State‘ BRD zu befreien.“

„Souveränisten“

Rathje führte auch einen alternativen Begriff ein, um das politische Spektrum von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zu beschreiben - den „verschwörungsideologischen Souveränismus“. Darunter versteht er das Bestreben, „individuelle oder Volkssouveränität und eine damit verbundene, als natürlich begriffene Ordnung gegen die herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung (wieder-)herzustellen, die als Mittel einer globalen Verschwörung mit dem Ziel der Vernichtung der Eigengruppe identifiziert wird.“ Seine Definition ist nachvollziehbar. Der Begriff ist so breit angelegt, dass darunter nicht nur „Reichsbürger“ mit oder ohne Bezüge in den Neonazismus sowie individuelle oder organisierte „Selbstverwalter“ („sezessionistische Souveränist:innen“), sondern auch Teile der AfD gefasst werden können, sofern sie davon ausgehen, dass Deutschland nicht souverän und Opfer einer globalen Verschwörung ist.

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