„Die Bäume müssen erst noch wachsen“
Von Alena Becker „Die Bäume müssen erst noch wachsen“ Zur Einweihung des neuen Gedenkortes in Lety u Písku
Die Eröffnung fand anlässlich des seit vielen Jahren in Lety u Písku etablierten jährlichen Gedenkens statt. Von August 1942 bis Mai 1943 waren hier etwa 1.300 Menschen auf Geheiß der nationalsozialistischen Besatzer in einem ehemaligen tschechischen Arbeitslager interniert worden, 327 von ihnen überlebten die Monate der Gefangenschaft im offiziell „Zigeunerlager I Lety u Písku“ genannten Lager nicht. Sie starben mehrheitlich an den Folgen von harter körperlicher Zwangsarbeit in Kombination mit Mangelernährung und an Krankheiten, die einerseits Folge dieser Zustände waren, andererseits an Seuchen, die aufgrund der hygienischen Bedingungen im Lager im Winter 1942/1943 ausbrachen.
Die übrigen wurden nach „rassischer Zugehörigkeit“ sortiert – wer nicht als „Zigeuner im rassischen Sinne“ kategorisiert wurde, wurde aus dem Lager entlassen, alle anderen im Mai 1943 nach Auschwitz deportiert. Mitte der 1970er Jahre wurde auf dem ehemaligen Lagergelände eine Schweinemast-Anlage errichtet, die fortan eine wichtige Rolle im Kampf um Anerkennung des Genozids an Rom*nja und Sinti*zze im „Protektorat Böhmen und Mähren“ und um ein würdiges Gedenken spielte. Erst im November 2017 kaufte der tschechische Staat die Schweinefarm und machte den Weg frei für den neuen Gedenkort (siehe hierzu u.a. LOTTA #91, S. 58 f.).
„Viel zu lange gedauert“
Petr Fiala, seit November 2021 Premierminister der Tschechischen Republik, bemüht sich bei der Eröffnung des Gedenkortes erst gar nicht, irgendetwas zu beschönigen. „Wir müssen offen eingestehen, dass es viel zu lange gedauert hat. […] Dieser Gedenkort hätte schon viel früher hier stehen müssen,“ lässt er den zu solchen Gelegenheiten üblichen Begrüßungen und Höflichkeitsbekundungen umgehend folgen. Die Verantwortung hierfür, fügt er hinzu, trage der tschechische Staat, denn dieser sei es gewesen, der den Aufkauf der Schweinemast-Anlage lange verschleppt habe. Sollte Fiala Begeisterung und Dankbarkeit erwartet haben für seine Worte, auf die viele lange gewartet haben dürften, dann wohl vergeblich. In den Interviews, die das von Romea – einer der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Rom*nja-NGO in Tschechien – getragene Online-Medium romea.tv während der Feier führte, stehen andere Gefühle im Vordergrund. Ein aufmerksamer Kameramensch fängt im Hintergrund dezente und unspektakuläre Freude ein, die der ehemalige Kulturminister Daniel Herman und Jozef Miker, langjähriger Aktivist und Nachkomme von Überlebenden, miteinander teilen. Der Aufkauf der Schweinemast-Anlage war eine der letzten Amtshandlungen vor dem Ausscheiden Hermans aus dem Ministeramt. Jozef Miker zeigt sich im Interview zufrieden mit dem neuen Gedenkort. All die Jahre des Kampfes und des Streits hätten sich gelohnt, sagt er. Lety möge vor allem den Jüngeren aus seiner Community ein Symbol dafür sein, dass sich das Kämpfen lohne und sie niemals aufgeben mögen.
Rudolf Murka, ebenfalls Kind Überlebender des Lagers in Lety, bekennt sich zu gemischten Gefühlen. Schön sei es, nun an dem Ort zu stehen, für dessen Entstehen er und viele weitere so lange gekämpft hätten. Aber seine Freude sei getrübt, vor allem durch die Plaketten mit den Namen der Toten, die in den Rundweg der Erinnerung eingelassen wurden. Ähnlich äußert sich Jana Kokyová, Nichte des 2022 verstorbenen Čeněk Růžička, der über all die Jahre eine der treibenden Kräfte in der Protestbewegung für die Anerkennung des Genozids in der tschechischen Gesellschaft und die Errichtung eines würdigen Gedenkortes war. Seine Nichte erklärt nun, sie fühle sich erleichtert, dass es nun endlich einen würdigen Gedenkort gebe, der für sie darüber hinaus auch ein Mittel sei, das zum Kampf gegen den allgegenwärtigen Rassismus gegen Rom*nja in der Tschechischen Republik zumindest symbolisch beitrage. Doch auch sie zeigt sich tief verletzt von den in den Weg eingelassenen Namen der Toten. Sicherlich werde eines Tages jemand achtlos über diese Namen hinweggehen, darauf herumtrampeln. Dies sei inakzeptabel und unverzeihlich. Dass dies nicht geschehen dürfe, seien mehr oder weniger die letzten Worte ihres Onkels gewesen. Die Architekt*innen hätten es zwar gut gemeint, fügte sie hinzu, aber dennoch…
Symbolischer Ort
Dr. Jana Horváthová, Direktorin des Museums der Roma-Kultur in Brno und damit letztendlich auch oberste Chefin des neuen Gedenkortes in Lety, den das Museum gestaltet und verwaltet, wirkt im Interview sichtlich erschöpft. Der Ort sei von großer Bedeutung, sagt sie, doch dürfe man nicht vergessen, dass es sich in erster Linie um ein Symbol handele. Sie verweist auf den Ort des zweiten sogenannten „Zigeunerlagers“ im „Protektorat Böhmen und Mähren“ und die zugehörige Gedenkstätte in Hodonín u Kunštátu. Lety sei eben bekannter, doch die Geschichte sei dieselbe, erklärte sie – und hat Recht damit. Angesprochen auf die Einwände Murkas und Kukyovás stellt sie klar, dass es für alle Beteiligten eine Überraschung gewesen sei, als man festgestellt habe, wie klein und unscheinbar die Plaketten mit den Namen, die in den Weg eingelassen wurden, tatsächlich seien. Sie habe weitere zwei Millionen Kronen (aktuell etwa 79.000 Euro) aus dem Budget des Museums bereitgestellt, das Maximum dessen, was möglich gewesen sei, um größere Namensplaketten kaufen zu können. Čeněk Růžička, der in der Jury ebenfalls für diesen Entwurf gestimmt habe und mit dessen Details vertraut gewesen sei, habe sich gemeinsam mit ihr darum bemüht.
Wenige Wochen später, ohne Zeremonie und geladene Gäste, liegt der Gedenkort ruhig in der Nachmittagssonne. Eine Betonwand nimmt vom neuen Parkplatz aus die Sicht auf das Areal, dahinter liegt das Besucherzentrum, in dem multimedial die Geschichte von der Vorkriegszeit bis zum weiter andauernden Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung erzählt wird. Das Außengelände, durchzogen vom Pfad der Erinnerung, wirkt kahl. Entlang der Tafeln und Hörstationen in drei Sprachen – Tschechisch, Englisch und Deutsch – stehen unscheinbar und noch fast durchsichtig im Gegenlicht kleine Setzlinge. „Die Bäume müssen erst noch wachsen“, so Markus Pape, der sich als Aktivist und Journalist über Jahrzehnte für einen würdevollen Gedenkort eingesetzt hat. Bäume, die eines Tages den im Entwurf der Architekt*innen angelegten Wald bilden sollen zur Umschließung des Inneren des Rundwegs. Dieser selbst aber soll als Erinnerung an diejenigen, die fehlen, kahl bleiben. Bis dahin aber werden noch viele Jahre, ja Jahrzehnte vergehen. Vielleicht spenden sie eines Tages Menschen Schatten, denen eine ganz andere Gesellschaft vertraut ist als die derjenigen, die die Bäume gepflanzt haben.